Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
sprachen, rückte die Heeresgruppe Nord mit frappierender Geschwindigkeit vor. Die Leningrader wussten nicht, dass Leebs Panzergruppen nach dreitägigem Krieg bereits den größten Teil Litauens überrollt und einen Tag später einen Brückenkopf am Ufer des lettischen Flusses Düna errichtet hatten. Diese Linie war zwischen 1915 und 1917 von den zaristischen Heeren immerhin zwei Jahre gehalten worden. Es sei unwahrscheinlich, dass er je wieder etwas mit diesem ungestümen Vormarsch Vergleichbares erleben werde, schrieb von Manstein in seinen (berüchtigt selektiven) Memoiren. Es sei die Erfüllung der Träume jedes Panzerkommandeurs gewesen. In Litauen und Lettland, wo die meisten Bürger die Vertreibung der Sowjets begrüßten, reichten Frauen den deutschen Kavalleristen Blumensträuße, und nationalistische Milizen schlossen sich den Kämpfen und den Lynchmorden an Juden an.
Während die Deutschen voranstürmten, brach die Kommunikation der Roten Armee zusammen. Laute Telefonate verhallten mitten im Satz, Dienstwagen wichen qualmenden Dörfern auf der Suche nach Kommandoposten aus. Befehle, wenn sie überhaupt eintrafen, hatten nichts mit der Realität zu tun, denn Offiziere wurden angewiesen, nicht mehr existierende Kräfte einzusetzen oder Orte zu verteidigen, die sich bereits weit in der deutschen Etappe befanden. Typisch war die Erfahrung des 5. Motorisierten Schützenregiments. Wie andere Grenzeinheiten gehörte es nicht zur regulären Armee, sondern zum ausgedehnten Sicherheitsimperium des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD). Das Regiment scheint durch den Kriegsausbruch völlig überrascht worden zu sein. Am 22. Juni fuhr es um 10 Uhr auf der Straße von Wilna nordwärts nach Riga, als es plötzlich von deutschen Stukas angegriffen wurde. »Das Städtchen Siauliai brannte«, hieß es im Regimentsbericht, und »die deutschen Flugzeuge machten kurzen Prozess mit den Flüchtlingen und Soldaten auf der Straße. Dadurch wurde deutlich, dass der Krieg begonnen hatte.« Das Regiment suchte Schutz in einem Wald, wo ein Kurier den Befehl überbrachte, sich rasch nach Riga zu begeben, da dort »Unruhen« ausgebrochen seien. In der Stadt angekommen, stellte man fest, dass sie in der Hand von antisowjetischen lettischen Partisanen war, die Maschinengewehrstellungen auf Kirchtürmen, in Mansarden und hinter den Dachgeschossfenstern der Jugendstilhäuser errichtet hatten. Das Hauptquartier der Roten Armee und des NKWD, die Büros der lettischen Kommunistischen Partei sowie der Bahnhof wurden attackiert. Das Regiment sammelte die lettische Garnison und »verwickelte die Saboteure in schwere Kämpfe. Das Feuer aus Fenstern, von Kirchtürmen und Glockentürmen wurde mit dem Feuer von Maschinengewehren und Panzern beantwortet.« Man erschoss ohne Umschweife »120 Schurken, die unter den Saboteuren ergriffen worden waren«, und leitete auch Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten ein. »Vor den Leichen unserer gefallenen Kameraden schworen die Angehörigen des Regiments, die faschistischen Reptile gnadenlos niederzuschlagen, und am selben Tag spürte die Bourgeoisie von Riga unsere Rache an ihrem Fell.«
Das jedoch genügte nicht. Obwohl demoralisierte und ungeordnete Einheiten der zurückweichenden 8. Armee am 30. Juni in der Stadt eintrafen, waren die Sowjets fünf Tage später gezwungen, Riga aufzugeben und nordwärts nach Estland zu marschieren. Die Operation war chaotisch: Die Eisenbahnbrücke von Riga wurde gesprengt, bevor sämtliche sowjetischen Soldaten sie überquert hatten; unter den Zurückgelassenen war ein weiteres Grenzschutzregiment, von dem man nie wieder etwas hörte. Wie es in der Meldung des 5. Motorisierten Schützenregiments knapp heißt: »Da die Offiziere und Soldaten der 12. Grenzabteilung nicht aus der Schlacht auftauchten, haben sich keine Dokumente erhalten.« Am 10. Juli erteilte Schdanow den Befehl, am Fluss Nawast, den die Deutschen in Wirklichkeit bereits überquert hatten, standzuhalten. Nach einer brutalen zweistündigen Schlacht zog sich die aufgelöste Rote Armee zu dem Ort Wychma zurück. »Vor Wychma fand buchstäblich ein Massaker statt. Wie im Rausch versuchten die wütenden Faschisten, aus Wychma auszubrechen, doch mit Feuer und Bajonetten hielten die Kämpfer und Befehlshaber des 320. Schützenregiments und des 5. Motorisierten Schützenregiments den Feind nieder.« Mittlerweile kann nicht mehr viel vom 5. Motorisierten Regiment übrig gewesen sein, denn es wurde
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