Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
aber trotzdem empfanden wir Trauer – die Verluste waren einfach zu hoch. Ein großes Werk war abgeschlossen, unmögliche Taten waren vollbracht worden. Wir alle spürten es … Aber wir spürten auch Verwirrung. Wie sollten wir nun leben? Zu welchem Zweck? 6
Olga Freudenberg trauerte um ihre Mutter. Sie lag, mit dem Gesicht zur Wand, stundenlang im Bett oder wanderte durch die Wohnung und räumte mechanisch auf:
Nun habe ich viel Zeit. Ich bin in sie hineingeworfen. Um mich herum – uferlose Zeit. Ich möchte sie begrenzen durch eine Aufgabe, sie ausfüllen durch Bewegung im Raum, aber sie läßt sich nicht verkürzen … Erst spät abends verspüre ich eine gewisse Erleichterung: wieder ist ein Tag zu Ende. Getröstet gehe ich zu Bett und entschwinde für sieben Stunden aus der Zeit … Furchtbar die Morgenstunden im Bett, das erste Bewußtwerden nach der Nacht. Ich bin hier! Wieder die Zeit! 7
Im Sommer 1944 kehrten viele Evakuierte zurück. Sie sorgten dafür, dass sich die Leningrader Bevölkerung innerhalb von zwölf Monaten mehr als verdoppelte. Auch brachten sie den Hauch Zentralasiens und der fernen russischen Landschaft mit. Ein Mädchen, das auf einer Kolchose in der südlichen Steppe gelebt hatte, vermisste es, mit ungesattelten Pferden hinaus auf die Weide zu reiten, und kletterte stattdessen auf die Dächer der Stadt – »nur fünf Etagen oder höher, und je steiler, desto besser«. Eine Freundin von Vera Inber kam mit einem Spinnrad heim, das sie in Gang setzte, wenn sie nicht Beethovens Sonaten spielte. 8 Ein Jahr später, im Sommer 1945, kehrten auch die Soldaten zurück. Aufgewachsen im Glauben an die Rückständigkeit des Kapitalismus, waren sie durch ihren Blick auf den deutschen Lebensstandard, sogar in Kriegszeiten, verblüfft worden. Warum, dachten viele, hatten die Deutschen die Mühe der Invasion auf sich genommen, obwohl sie doch schon so viel besaßen?
Als Letzte kamen die überlebenden Kriegsgefangenen nach Hause. Von den rund 4,5 Millionen Sowjetsoldaten, die während des Krieges in Gefangenschaft gerieten, waren am Ende noch etwa 1,8 Millionen am Leben … Die Übrigen wurden ermordet (wenn sie Juden waren oder der Partei angehörten) oder fielen Hunger und Krankheit zum Opfer. Etliche starben auf Zwangsmärschen beim Zurückweichen der Wehrmacht in Richtung Westen. Sobald die Rote Armee ihre Lager erreichte, internierte sie die Überlebenden sofort neu und unterzog sie einer »Filtrierung«. Standardfragen lauteten: »Warum hast du dich nicht erschossen, statt dich zu ergeben?«, »Warum bist du nicht im Kriegsgefangenenlager gestorben?« und »Welche Aufträge hast du von der Gestapo und der Abwehr erhalten?«. Die von den Alliierten Befreiten wurden außerdem gefragt:
»Welche Aufgaben hast du vom anglo-amerikanischen Geheimdienst erhalten?« Lew Kopelew, ein Politruk, der wegen seiner Proteste gegen die Massenvergewaltigung deutscher und polnischer Frauen durch die Rote Armee verhaftet worden war, teilte sich eine Zelle mit zwei jungen Leningradern. Sie waren mit zwölf Jahren, als die Wehrmacht ihr Pionierlager bei Luga überrannte, gefangen genommen und als Sklavenarbeiter nach Deutschland geschickt worden. Dann sollten sie an der russischen Front als Spione eingesetzt werden, hatten jedoch sofort die russischen Linien überquert und sich der ersten Einheit der Roten Armee, auf die sie gestoßen waren, ausgeliefert. Kopelew versicherte den Jungen, dass man sie bald nach Hause entlassen werde, doch in Wirklichkeit erfuhr er nichts über ihr weiteres Schicksal. Er selbst wurde wegen der üblichen »antisowjetischen Tätigkeit« verurteilt und bis 1954 in den Gulag geschickt. 9
Familienzusammenführungen (für diejenigen, die das Glück hatten, sie zu erleben) waren oft schwierig. Kinder erkannten ihre Eltern nicht wieder, Eltern verstanden ihre Kinder nicht mehr, Ehegatten hatten sich geändert und waren einander fremd geworden. Sogar die Stadt sah anders aus: mager und hart, hohläugig, mit Zahnlücken und Schrapnellnarben versehen. Hocherfreut, wieder daheim zu sein, wurde Anna Achmatowa am Bahnhof von ihrem Vorkriegsliebhaber, dem Pathologen Wladimir Garschin, empfangen. Sie hatten brieflich vereinbart zu heiraten, wobei Achmatowa seinen Namen übernehmen sollte. Nun stellte sie jedoch fest, dass er es sich anders überlegt hatte. Sie redete sich ein, Garschin habe den Verstand verloren (»Der Mann, der mir/Nun nichts bedeutet … Wandert wie ein Geist durch die
Weitere Kostenlose Bücher