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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Randbezirke/Die Seitenstraßen und Hinterhöfe des Lebens«), doch in Wirklichkeit hatte er sich einfach nur in eine Arztkollegin verliebt. Die gedemütigte Achmatowa strich alle an ihn gerichteten Widmungen aus ihren Gedichten und zog wieder in ihr altes Zimmer neben dem von Nikolai Punin im Anbau des Scheremetjew-Palasts. Die Fenster wurden dank Olga Berggolz repariert, die ihre Beziehungen zu einem Aufseher in der Öffentlichen Bibliothek spielen ließ. Nachdem Berggolz den Mann über Achmatowas Bedeutung informiert hatte, entgegnete er, sie solle seine Intelligenz nicht unterschätzen: »Ich bin gebildet!« Danach entfernte er das für die Reparatur erforderliche Glas – »Ich glaube, sie werden uns vergeben« – von mehreren eingerahmten Drucken großer Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts.
    Tschurkin, dessen beide Söhne an der Front gefallen waren und dessen Frau verhungert war, hatte niemanden mehr, zu dem er heimkehren konnte. Freunde nahmen ihn bei sich auf, und es dauerte drei Tage, bis er es über sich brachte, seine eigene Wohnung aufzusuchen. Jemand hatte dort eingebrochen:
    Ein schreckliches Durcheinander; die Diebe hatten alles auf den Kopf gestellt. Sämtliche Kleidungsstücke – Anzüge und Mäntel – und Wertsachen sind verschwunden. Was sie nicht interessierte, ist über den Fußboden verstreut … Das Einzige, was ich an mich nahm, war unser Fotoalbum. Hier sind sie, meine Lieblinge, die schweigend zu mir aufschauen. Ich werde sie nie wiedersehen. Mein Schmerz ließ mich in Tränen ausbrechen. 10
    Draußen in Jaroslawl erging es Irina Bogdanowa besser. Zwar hatte sie all ihre engeren Verwandten verloren, doch sie erinnerte sich an die Adresse von Freundinnen der Familie: vier unverheirateten Schwestern aristokratischer polnischer Herkunft, in deren mit Dachpappe gedecktem Häuschen in einer Datschensiedlung östlich von Leningrad sie einmal den Sommer verbracht hatte. Nach dem Empfang von Irinas Brief – mit kindlichen Buchstaben geschrieben und voll von höflichen Nachfragen nach der Gesundheit der Katze und des Hundes – reisten die beiden überlebenden Schwestern (die anderen waren verhungert) sofort nach Jaroslawl, nahmen Irina mit nach Hause und zogen sie wie ihr eigenes Kind auf. Heute bewahrt Irina das Andenken an die Schwestern in Form einiger Atelierfotos – entstanden um die vorletzte Jahrhundertwende und gedruckt auf einer goldumrandeten Platte – von hübschen jungen Frauen mit winziger Taille und dichtem, hochgebürstetem Haar. Ihre breiten weißen Hüte sind mit Taubenschwingen verziert.
    Leningrad bedurfte natürlich auch der physischen Reparatur. Obwohl nicht annähernd so schwer beschädigt wie die dem Erdboden gleichgemachten Städte Charkow, Minsk oder Stalingrad – oder, laut Augenzeugenberichten, wie London –, war es während der Belagerung von über 150000 schweren Artilleriegeschossen und mehr als 10000 Bomben und Brandbomben getroffen worden. 11 Fenster, die nicht zerbrochen waren, Mauern ohne Risse und nicht tropfende Dächer gab es kaum noch. Die Eremitage, die während des Krieges wunderbarerweise nur zwei direkte Treffer zu verzeichnen hatte, reichte eine Rechnung für 65 Tonnen Mörtel, 100 Tonnen Zement, 6000 Quadratmeter Glas, 80 Tonnen Alabaster und 6 Kilo Blattgold ein.
    Während sich die Stadt wieder füllte, wuchs die Nachfrage nach unversehrten Wohnungen, und es kam zu immer schärferen Disputen zwischen zurückkehrenden Evakuierten und den neuen (legalen oder illegalen) Inhabern der einst geräumten Zimmer. In der Theorie erhielten frühere Soldaten sowie Zivilisten, die man individuell evakuiert hatte (also die politische und kulturelle Elite), ihre Vorkriegsunterkünfte automatisch zurück, während Zivilisten, die mit ihren Fabriken oder Institutionen aus der Stadt hinausbefördert worden waren (die breite Masse), keine Ansprüche geltend machen konnten. Doch in der Praxis mussten sogar die beiden ersten Kategorien häufig zu Bestechung und amtlicher Einflussnahme greifen, um sich ihr Recht zu verschaffen. Auch ein Gesetz, das die Rückgabe von zu Schleuderpreisen verkauften Wertsachen vorsah, wurde nicht angemessen realisiert, weshalb es nach dem Krieg nicht selten vorkam, dass jemand ein geliebtes Gemälde an der Wand eines Devisengeschäfts oder die Brosche seiner Mutter am Aufschlag einer Fremden sah. 12
    Die schlimmsten architektonischen Verluste betrafen die Sommerpaläste der Zaren. Eine der Ersten, die Pawlowsk – acht Tage nach

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