Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
seiner Befreiung – zu Gesicht bekam, war Anna Selenowa. Nachdem sie die Genehmigung (wenn auch kein Transportmittel) erhalten hatte, dort nach dem Rechten zu sehen, brach sie zu Fuß auf. Es sei kein einsamer Spaziergang gewesen, schrieb sie schadenfroh an einen evakuierten Kollegen, denn Krähenschwärme, die über all den nicht beerdigten deutschen Leichen kreisten, hätten ihr Gesellschaft geleistet. Ein Toter war an einen Zaun gelehnt worden, und man hatte einen Zettel an seiner Kleidung angebracht: »Wollte nach Leningrad marschieren. Hat es nicht geschafft.« Am Eingang zum Pawlowsker Park war die Mittelsäule des Doppeltores abgerissen worden – wahrscheinlich, dachte Selenowa, um Platz für die Panzer zu machen. Der Park selbst war mit Granattrichtern, Baumstümpfen, Schutzgräben und Schießständen übersät. In einem Bunker fand sie Gobelins, aus denen Hakenkreuze herausgeschnitten worden waren, in einem anderen mehrere Gemälde und einen Konzertflügel. Mit Intarsien versehene Türen hatten als Fußgängerbrücken über Gräben gedient, Mahagonischränke waren in Latrinen verwandelt worden. Der Palast selbst – die Deutschen hatten ihn, wie Peterhof, bei ihrer Abfahrt angezündet – brannte seit zehn Tagen:
Die Kuppel ist verschwunden, genau wie die Uhrtürme, und die Rossi-Bibliothek ist samt den Wänden niedergebrannt. Es gibt keinen rechten Flügel und keinen Thronsaal mehr, keine vergitterte Galerie über den Kolonnaden. Die Bildergalerie, die Kapelle, der ganze Palast existieren nicht mehr … Schaut man durch die Fenster im Erdgeschoss, sieht man den Himmel, und man kann die Räume nur mit Hilfe der noch vorhandenen Verputzfragmente unterscheiden.
Im Innern fand Selenowa Sprüche an den Wänden, Überreste des Parkettfußbodens, die an ein halb fertiggestelltes Puzzle erinnerten, und Haufen leerer Weinflaschen. Verkohlte Balken qualmten noch, und geschmolzenes Blei tröpfelte von den Dachresten auf ihre Kamera. Die Statue von Zar Paul vor dem Haupteingang war zu einem Telegrafenmast umfunktioniert worden, und man hatte seinen Zweispitz mit Kabeln umwickelt. (»Ich bin so froh, dass Pawel [Paul] mit dem Rücken zum Palast steht.«)
Im demolierten Puschkin lagen der Katharinen- und der Alexanderpalast genauso in Trümmern – der Erstere teilweise auch deshalb, weil es der Roten Armee nicht gelungen war, zwei Zeitzünderbomben zu entschärfen; die zweite explodierte am 3. Februar, mehr als eine Woche nach der Befreiung: »Eine elende Schande – die Leute hätten in den ersten Stunden auf ihren Posten sein müssen«, erwiderte Selenowas Kollege, als er die Nachricht erhielt. 13 Noch jahrelang nach dem Krieg war es seine Aufgabe, Osteuropa nach geplünderten Palastschätzen abzusuchen. Nie gefunden wurden zum Beispiel die Rokokopaneele des legendären Bernsteinzimmers im Katharinenpalast, das Friedrich Wilhelm von Preußen einst Peter dem Großen zum Geschenk gemacht hatte. Die fein gearbeiteten Paneele, die man während der Evakuierung des Museums hinter falschen Wänden versteckt hatte, wurden rasch von den anrückenden Nationalsozialisten entdeckt, die sie in Kisten packten und nach Königsberg schickten. Sie wurden zuletzt im Königsberger Schloss gesehen, und niemand weiß, was danach mit ihnen geschah. Ungeachtet der Meinungen von Schatzjägern ist zu vermuten, dass sie durch ein Feuer zerstört wurden, welches ein paar Tage nachdem das Gebäude im April 1945 an die Rote Armee gefallen war, durch die Räume fegte. 14
Die vorsätzliche Zerstörung der Paläste entfachte unter den Russen, wie der Journalist Alexander Werth schrieb, »eine so große Wut wie die schlimmsten deutschen Gräueltaten an Menschen«. Wie die meisten vermutete er zunächst, die Bauten seien nicht restaurierbar. Oben auf der Großen Kaskade von Peterhof stehend, soll der Sowjetvorsitzende Pjotr Popkow auf die geschwärzte Ruine gedeutet und erklärt haben: »Wir werden das nicht wieder aufbauen. Das ganze Gelände wird eingeebnet.« 15 Andere befürworteten, die Ruine als Monument der nationalsozialistischen Brutalität unangetastet zu lassen oder sie durch eine Arbeitersiedlung zu ersetzen.
Die Entscheidung zum Wiederaufbau, die Stalin persönlich traf, stand im Einklang mit einer neuen öffentlichen Stimmung, welche die gesamte Sowjetunion bei Kriegsende erfasste. Zunächst sehnten sich alle schlicht nach einem leichteren, angenehmeren, »normalen« Leben. Olga Gretschina, die für ihren zweiten Studienbeginn
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