Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
verzweifelt nach einer ansehnlichen Garderobe suchte, verschaffte sich neue Stiefel, indem sie die Kufen von einem Paar Schlittschuhe abmontierte. Marina Jeruchmanowa adoptierte nach ihrer Entlassung aus dem Jewropa einen streunenden Bernhardiner (die gleiche Rasse, die ihre Großeltern bevorzugt hatten), den sie mit »Eskimo«-Eiskrem fütterte und auf dem Bürgersteig auf öffentliche Waagen hievte. (Er war, wie sie sich ausmalte, von siegreichen tankisty aus einem verlassenen deutschen Schloss gerettet worden.) Nikolai Rybkowski, der Apparatschik, der sich in der schlimmsten Zeit des Massentodes in einem Partei-Sanatorium an Schinken und Puter labte, freute sich auf den Tag, an dem er sich leisten konnte, ein Mädchen ins Mariinski-Theater einzuladen und in der Pause mit Kaffee und Kuchen zu bewirten. Wissenschaftler im Botanischen Garten stellten einen Wunschzettel mit sonnigen Ländern zusammen, in die sie Expeditionen zur Sammlung neuer Pflanzen entsenden wollten: Indien, Madagaskar, Java, Australien und Ceylon. 16
Außerdem sahen die Menschen ein, dass der Kommunismus nicht weichen würde. Vor dem Krieg war es noch möglich gewesen, das Regime als zeitweilig zu betrachten. Laut dem Konversationscode hatte man den Zarismus als »die friedliche Zeit« bezeichnet, womit die Möglichkeit einer Rückkehr zur natürlichen Ordnung angedeutet wurde. Nun geriet die Wendung aus der Mode. »Leningrad« hatte »Petersburg« für immer ersetzt. Allerdings wünschte man sich, dass dieser Kommunismus ein anderer sein würde. Nachdem die Bürger vier Jahre lang für ihr Land gekämpft, gearbeitet und gelitten hatten, glaubten sie, ein Recht darauf zu haben, dass ihre Regierung ihnen Vertrauen schenkte. Sie wünschten sich die üblichen Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens – Sicherheit, Komfort, Unterhaltung –, doch auch die Freiheit, ihre Meinung zu sagen, die Außenwelt zu erforschen und nicht mehr nur zum Schein am öffentlichen Leben teilzunehmen. Bei den ersten Nachkriegswahlen zum Obersten Sowjet entwerteten viele Leningrader ihren Stimmzettel und kritzelten: »Wann schafft ihr die kommunistische Leibeigenschaft ab?«, »Gebt uns Brot und veranstaltet dann Wahlen«, »Nieder mit der Schwerarbeit in Fabriken und auf Kolchosen, hoch mit der Freiheit des Wortes und der Presse.« Einige strichen sogar den Namen des Kandidaten durch und schrieben »Für Adolf Hitler«. »Es ist demütigend«, klagte ein Schauspieler an der Alexandrinka. »Man kommt sich vor wie ein Roboter, wie eine Schachfigur. Wie kann man wählen, wenn nur ein einziger Name auf der Liste steht?« 17
Alexander Werth, der im September 1943 die Erlaubnis erhielt, für kurze Zeit aus Leningrad zu berichten, hatte die Sehnsucht nach dem Wandel gespürt. Auf einem Bankett des Schriftstellerverbands ihm zu Ehren wurden die üblichen Trinksprüche auf Churchill und Eden ausgebracht, doch dahinter entdeckte er »in noch höherem Maße als in Moskau … ein wirkliches Streben nach künftigen engen Kontakten mit dem Westen. Man dachte an Häfen und Schiffe – Schiffe, die Passagiere hin und her beförderten sowie Waren und Bücher und Musik und Bilder und Grammofonaufnahmen.« Als Werth Popkow interviewte, fiel ihm auf, dass sich dieser als Leningrader »Bürgermeister«, nicht als Vorsitzenden des Stadtsowjets bezeichnete, und beim Besuch eines Militärflugplatzes staunte er über die in der Offiziersmesse angehefteten Devisen, die nicht von Lenin stammten, sondern aus einem Etikettehandbuch des vorrevolutionären Corps des Pages (»Vermeiden Sie es, zu gestikulieren und die Stimme zu heben«, und: »Die Stärke eines Offiziers liegt nicht in impulsiven Akten, sondern in seiner unerschütterlichen Ruhe«). Sein Zimmermädchen im Hotel Astoria nahm dankbar eine Lucky Strike entgegen und schwelgte in Erinnerungen an die ägyptischen Tanagras, die sie im Dienst einer Fürstin Borghese geraucht hatte, sowie an die jährlichen Reisen nach Paris zum Kauf von Unterwäsche bei Paquin und Worth. An Werths letztem Abend führte man ihn zu einer ausverkauften Bühnenfassung von Frank Capras Komödie Es geschah in einer Nacht , komplett mit Showmelodien, einem Millionär, Detektiven und Gangstern – »alle bekleidet wie ›wirkliche‹ Amerikaner mit den grellsten blauen und purpurnen Anzügen«. Überall hingen mehr Porträts von Schdanow als von Lenin und Stalin. Insgesamt hatte er den »seltsamen Eindruck, dass Leningrad sich ein wenig von der übrigen
Weitere Kostenlose Bücher