Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
einem Korridor der Akademie der Wissenschaften sitzend, interviewte ich die Historikerin Angelina Kupaigorodskaja, die den ersten Belagerungswinter ganz allein, abgesehen von gelegentlichen Besuchen ihres in seiner Fabrik einquartierten Vaters, durchlebte. »All die Geschichten von Mädchen«, sagte sie, »die so schwach waren, dass man sie, ihre Puppen in der Hand, an Drehbänke binden musste, sind nichts als Nachkriegssentimentalität.« In Wirklichkeit sei die Belagerung öde, mühsam und abscheulich gewesen. Kein Mensch solle so etwas durchmachen müssen. Als wir uns voneinander verabschiedeten, rappelte sie sich auf und packte meinen Arm. Nachdem ich meine Fragen gestellt hatte, waren diese abschließenden Worte das allerwichtigste für sie, der Standpunkt, den sie unbedingt deutlich machen wollte.
Die russische Haltung zum Zweiten Weltkrieg ist im Allgemeinen unkompliziert. Grimmiger Stolz darauf, einen gerechten Krieg gewonnen zu haben; leidenschaftlicher Hass auf einen Feind, der die Russen vernichten wollte. Andere Gesichtspunkte – die Vorkriegssäuberung von Heeresoffizieren, der deutsch-sowjetische Pakt, das Massaker an polnischen Offizieren bei Katyn, die Verhaftungen und Verbannungen der Kriegszeit – werden (manchmal widerwillig) eingeräumt, gelten jedoch als nebensächlich.
Bestehen bleibt die Tatsache, dass Russlands Großer Vaterländischer Krieg – wie er meistens immer noch genannt wird – einen unnötig hohen Preis forderte. Dafür ist die Blockade Leningrads das wohl extremste Beispiel. Das nationalsozialistische Deutschland leitete die Belagerung mit zielgerichteter und unmenschlicher Überlegung ein, doch es war das Sowjetregime, das die Zivilbevölkerung nicht rechtzeitig evakuierte, das keine ausreichenden Lebensmittelvorräte anlegte, Nahrungsdiebstahl nicht verhinderte und die Eisstraße nicht wie erforderlich organisierte. Es war ebenfalls das Sowjetregime, das Tausende von jungen Menschen für die Volkswehr opferte und seine eigenen bescheidensten und patriotischsten Bürger, obwohl sie bereits am Verhungern waren, weiterhin inhaftierte und hinrichtete. Hätte Russland eine andere politische Führung gehabt, wäre es vielleicht besser auf die Belagerung vorbereitet gewesen, hätte die Deutschen von vornherein daran gehindert, die Stadt zu umzingeln, oder wäre möglicherweise gar nicht überfallen worden.
Die kontrafaktische Geschichtsschreibung hat jedoch ihre Grenzen. Dieses Buch hat unter anderem den Zweck, sowjetische Mythen zu korrigieren, weshalb es sich auf negative Entwicklungen konzentriert. Allerdings vertritt es nicht die Meinung, dass Leningrad besser den Nationalsozialisten hätte ausgeliefert werden sollen. Auch sie hätten Zivilisten verhungern lassen, wie sie es in anderen von ihnen besetzten russischen Städten taten. Sämtliche zurückgebliebenen Juden wären zusammengetrieben und ermordet worden. Die 300000 Soldaten der Achsenmächte, die vor Leningrad gebunden waren (15 bis 20 Prozent sämtlicher deutschen Streitkräfte an der Ostfront), wären weiter nach Osten vorgestoßen, was zu einem längeren Krieg, zu Kämpfen um noch größere russische Gebiete, zu weiteren Besetzungen und einer noch schwereren Last für die Alliierten geführt hätte. Außerdem wäre Leningrad fast mit Sicherheit physisch zerstört worden, zuerst von den Sowjets, bevor sie es aufgegeben, und wiederum von den Deutschen, wenn sie sich endlich nach Westen zurückzogen hätten. Eine der bezauberndsten Städte Europas wäre heute entweder eine stalinistische Megapolis wie Charkow und Kaliningrad oder eine uneinheitliche, künstliche Rekonstruktion wie Warschau und Dresden.
Keiner der hier am ausführlichsten zitierten Tagebuchschreiber ist noch am Leben. Dmitri Lichatschow, der junge Mediävist, der von der Invasion hörte, während er sich an einem Flussufer sonnte, schlug eine herausragende Hochschulkarriere ein, wurde Leiter des Seminars für Altrussische Literatur der Universität und tat sich in der Glasnost-Ära als führender Verfechter der Demokratie hervor. Er starb 1999 im Alter von zweiundneunzig Jahren.
Jelena Skrjabina, die junge Mutter, welche die Nachricht von der Invasion zunächst halbherzig begrüßte, emigrierte nach dem Krieg mit ihren Söhnen nach Amerika und wurde Russischprofessorin an der University of Iowa. Ihr Mann, der in Leningrad zurückblieb, vermutete, sie sei während der Evakuierung gestorben. Er heiratete ihre verwitwete beste Freundin.
Anna
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