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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Lidia Ginsburg, der analytischsten und vielleicht auch verständnisvollsten Vertreterin aller Memoirenschreiber. Sogar nach den größten Tragödien, ruft sie uns indirekt ins Gedächtnis, geht das Leben weiter. Das Neue kommt anstelle des Alten; Fehlendes wird ersetzt; die Vergangenheit ist bedeckt und vergessen. Es ist Juni, die Zeit der Weißen Nächte, und ihr anonymer »Blockademensch« hat bis spätabends gearbeitet. Er begibt sich aus seinem Büro, dessen Fensterläden geschlossen sind, auf den Newski und verspürt »das gewohnte Staunen« darüber, dass die Sonne noch scheint, dass ihre Lichtstrahlen den nassen Asphalt funkeln lassen. »Es ist eben jene Unerschöpflichkeit des andauernden Lebens«, denkt er, »welche die echten Leningrader so sehr lieben. Es ist das Gefühl eines noch nicht angetasteten Lebensvorrats; es wird einem jeden Tag aufs neue zugeteilt.« 11

 
    ANHANG I: WIE VIELE? 5
     
    Um die Gesamtzahl der Todesfälle von Zivilisten während der Leningrader Belagerung zu schätzen, werden zwei Methoden benutzt.
    Die erste stützt sich auf offizielle Todesmeldungen. Eine 1943 gegründete »Kommission zur Untersuchung von Gräueltaten der faschistischen Besatzer« verwendete Daten des Zentralarbeitsamts der Stadt, der fünfzehn Bezirke und der Randgemeinden wie Kronstadt und Kolpino. Dabei ermittelte sie rund 649000 Opfer unter der Zivilbevölkerung; davon seien 632253 durch Hunger und damit verbundene Krankheiten gestorben, die übrigen 16747 durch Bombenabwürfe und Granatfeuer. Diese Zahlen nannte die Sowjetregierung in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, und sie werden seither weithin zitiert. Außerdem ist ihre Größenordnung mit jener der Zahlen des Leningrader Bestattungstrusts, der für Friedhöfe zuständigen Behörde, vergleichbar. Die Unterlagen des Trusts zeigen, dass er in den vierzehn Monaten seit Anfang November 1942 rund 460000 Leichen entfernte; ihnen sind 228263 von der Zivilschutzorganisation (MPWO) beerdigte Tote hinzuzufügen, so dass von insgesamt 688263 Beisetzungen die Rede ist.
    Diese Spanne zwischen 650000 und 690000 ist jedoch mit einiger Sicherheit viel zu niedrig angesetzt. Etliche Belagerungstote wurden nie oder mit großer Verspätung registriert (»Nur ein unerheblicher Anteil der Bevölkerung suchte die Meldeämter auf«, wie die städtische Dienstleistungsbehörde einräumt). Noch 1959 erhielt die Kommission Nachmeldungen aus der Kriegszeit. Die Zahlen des Bestattungstrusts sind ähnlich zweifelhaft, was durch das Chaos auf Friedhöfen und in Leichenhallen sowie durch die Tatsache belegt wird, dass er keine Tageszahlen für Entbindungen und Beisetzungen liefern konnte, als der Stadtsowjet ihn Ende Dezember 1941 dazu aufforderte.
    Die zweite Methode besteht darin, dass Historiker die Zahl der Todesopfer von oben nach unten berechnen, indem sie den Rückgang der Leningrader Bevölkerung zwischen dem Beginn und dem Ende der Blockade betrachten und voraussetzen, dass jede unerklärte Abwesenheit auf Hungertod oder Bombardierungen zurückzuführen ist. Als sich der Belagerungsring Anfang September 1941 schloss, lag die Zivilbevölkerung der Stadt bei ungefähr 2,5 Millionen Menschen, einschließlich rund 100000 neu eingetroffener Flüchtlinge. Bis Ende 1943, kurz vor der Befreiung, war sie um mindestens 1,9 Millionen auf kümmerliche 600000 geschrumpft. Unterdessen hatte man etwa eine Million Leningrader über den Ladogasee evakuiert und weitere 100000 an die Front geschickt, womit die mutmaßlichen Hungertode auf mindestens 800000 zu beziffern sind.
    Die Demografin Nadeschda Tscherepenina vollzog diese Berechnung kürzlich nach, wobei sie von der Zahl der damals vorhandenen Leningrader Aufenthaltsgenehmigungen ausging. Ihre Schätzung der Opferzahl – 700000 – ist teilweise deshalb niedriger, weil sie die illegale, nicht gemeldete Unterschicht sowie ebenfalls nicht erfasste bäuerliche Flüchtlinge ausschließt. Zudem berücksichtigt keine der genannten Schätzungen Todesfälle in ländlichen Gegenden innerhalb des Belagerungsrings, geschweige denn Zehntausende, die auf der Eisstraße und in anderen Reisestadien umkamen. Deshalb lässt sich mit Gewissheit nur feststellen, dass die Zahl der zivilen Todesopfer während der Belagerung bei wenigstens 650000 und höchstens 800000 lag. Wenn man sich auf eine Zahl festlegen sollte, dann wahrscheinlich auf rund 750000, das heißt auf ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung Leningrads unmittelbar vor dem

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