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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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einem anderen Regiment in derselben Division unterstellt, um seine Positionen bei Wychma wieder einzunehmen und »Deserteure, wenn nötig mit Gewehrfeuer, zurückzutreiben«. Dies war ein unmögliches Ansinnen, denn die Einheit wurde »unaufhörlich« von deutschen Tieffliegern angegriffen, wobei auch noch fliehende Soldaten und Zivilisten die Straßen versperrten. 29
    Während die Sowjets Riga unter blutigen Verlusten verließen, durchbrachen Reinhardts Panzer im Osten die alte Stalin-Linie bei Ostrow, an der bis 1940 bestehenden estnisch-sowjetischen Grenze. Hier wurden die weiß getünchten Bauernhöfe und akkuraten Felder der Balten vom eigentlichen Russland abgelöst: einer deichlosen, nicht entwässerten Landschaft aus Erlen, Weiden und Röhricht, mit Krüppelbirken und silbern gebleichten Holzhütten. Kartoffelbeete und baufällige Lattenzäune waren hinter Hecken aus Bärenklau und Weidenröschen verborgen. Am 8. Juli nahm Reinhardt die Festungen und die vierzig Kirchen der kleinen mittelalterlichen Stadt Pskow ein, die auf der Route nach Osten einen wichtigen Straßen- und Eisenbahnknotenpunkt bildete. Wieder sprengten die Sowjets eine Brücke, bevor alle zurückweichenden Männer sie überquert hatten. Von 215 Maschinengewehren wurden 206 zurückgelassen, Soldaten mussten sich an treibende Baumstämme klammern, um den Fluss zu überqueren. Innerhalb von siebzehn Tagen war die Wehrmacht erstaunliche vierhundertfünfzig Kilometer vorgerückt, wobei sie nicht nur sämtliche kurz zuvor erworbenen und wenig loyalen Baltenstaaten überrollte, sondern auch ins russische Kernland vordrang und Leningrad selbst bedrohte. 30
    In der Stadt erkannten nur wenige die sich nähernde Gefahr. Dabei gaben die Bürger sich alle Mühe. »Sobald wir aufwachen«, schrieb die junge Mutter Jelena Kotschina, »eilen wir zu unseren Radios und spülen die bitteren Pillen der Nachrichtensendung mit kalten Teeresten hinunter.« »Die Gier nach Informationen war furchtbar«, erinnerte sich Ginsburg. »Fünfmal am Tag stürzten die Menschen zum Lautsprecher, unterbrachen sie jegliches Tun. Sie bestürmten jeden Menschen, war er der Front, der Macht oder den Informationsquellen auch nur einen Schritt näher als sie selbst.« 31 Aber die Behörden taten ihr Bestes, die Öffentlichkeit im Dunkeln zu lassen. Das Sowjetische Informationsbüro (Sowinform), drei Tage nach Kriegsbeginn geschaffen, war das einzige Organ, das amtliche Verlautbarungen herausgeben durfte. Es gestaltete seine zweimal täglich gesendeten Berichte bewusst vage, indem es von Kämpfen »in Richtung« bestimmter Städte und von anonymen »Bevölkerungspunkten N« sprach, die erobert oder verloren gegangen seien. (Diese Konvention leitete sich von den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts her. Zum Beispiel wird Gogols Werk Die toten Seelen damit eröffnet, dass eine Kutsche durch die Tore eines Gasthauses in »der Provinzstadt N« fährt.) Statt Niederlagen zuzugeben, schilderte Sowinform kaum glaubhafte Beispiele individuellen Heldentums – die der Kriegskorrespondent Wassili Grossman abschätzig als »Iwan Pupkin tötete fünf Deutsche mit einem Löffel«-Geschichten bezeichnete. Wichtige Niederlagen wurden erst mehrere Tage später gemeldet. Dass Kämpfe »in Richtung« von Pskow stattgefunden hatten, verlautete erst am 12. Juli, vier Tage nach dem Fall der Stadt, und zwölf Tage später war immer noch von einem »Schlachtfeld« die Rede. Danach wurde das Thema in den Nachrichten einfach nicht mehr behandelt. 32
    Eines der praktischen Ergebnisse dieser Fehlinformationen bestand darin, dass Eltern, die ihre Kinder für die Sommerferien aufs Land geschickt hatten, diese häufig nicht heimholten, bevor sie in der deutschen Angriffswelle versanken. Auch mehrere von Jelenas Freundinnen wurden beinahe überrumpelt. Am 8. Juli gelang es ihrer Nachbarin Ljubow Kurakina, deren Mann in gebrochenem Zustand aus dem Gulag zurückgekehrt war, ihre Kinder aus Weißrussland, das damals bereits zum Teil besetzt war, zurückzuholen. Dabei sah sie einen deutschen Soldaten in ein paar Schritten Entfernung. Am meisten ängstigte sie, dass sie ihr Parteibuch im Strumpf bei sich trug. Sie war überzeugt, dass es ihr schlecht erginge, wenn man es fände. Doch nahm alles ein gutes Ende. Ljubow fand ihre Kinder und kam mit ihnen teils per Zug, teils mit Lastwagen oder zu Fuß zurück.
    Dem Mann einer anderen Freundin, einem »verantwortlichen Arbeiter« (Parteijargon für einen privilegierten

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