Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Funktionär), stand glücklicherweise ein Auto zur Verfügung, »das es ihm ermöglichte, einige größere und kleinere Dörfer [nach seiner dreijährigen Tochter] abzusuchen. Nur mit Mühe hat er die Kleine gefunden. Sie hatte nur noch ihr Unterkleid an.« 33 Die Historikerin Angelina Kupaigorodskaja, bei Kriegsbeginn elf Jahre alt, erinnert sich, wie das Personal ihres Pionierlagers die Kinder einfach im Stich ließ:
Wir sollten irgendeine Expedition, eine Wanderung, machen. Dann erfuhren wir, dass der Plan geändert worden war. Zwei oder drei Stunden vergingen, und schließlich mussten wir uns in einer Reihe aufstellen, bevor wir hörten, dass Hitler uns angegriffen hatte. Danach änderte sich sofort alles. Früher waren die Mahlzeiten so gut wie in einem Sanatorium gewesen, doch von nun an bekamen wir nur noch Kascha. Alle 3 Männer verschwanden, und die einzigen Erwachsenen waren die Kantinenangestellten. Obwohl der Lageraufenthalt beendet war, holte uns niemand ab. Wir liefen nur ziellos herum. Niemand erklärte irgendetwas; es gab ein Gerücht, dass wir nach Moskau geschickt werden würden, um in der U-Bahn zu wohnen.
Mit Hilfe eines anderen Kindes konnte Angelina ihren Eltern eine Nachricht schicken, und diese holten das Mädchen schließlich gegen Ende Juli ab. »Ich habe keine Ahnung, was aus den übrigen Kindern geworden ist. Viele waren noch im Lager, und die Deutschen näherten sich bereits.« 34
Aus Furcht, der Feigheit bezichtigt zu werden, gestaltete man die Kommunikation sogar innerhalb der Armee eher rhetorisch als faktisch. »Kaum war das Dorf Poljana unter Feuer geraten«, stand in einem Bericht vom 31. Juli, »als die Deutschen mit heruntergelassener Unterwäsche aus ihren Hütten sprangen. Auch Soldaten in den Schützengräben gaben Fersengeld … Mit ›Hurra!‹-Rufen fiel das Bataillon über die Faschisten her. Granaten, Bajonette, Gewehrkolben und brennende Flaschen wurden eingesetzt. Die Wirkung war überwältigend.« Am 2. Juli wurde eine NKWD-Grenzeinheit, die sich im »Haus eines früheren Kulaken« bei Ostrow verschanzt hatte, durch fünf feindliche Panzer angegriffen. »Aus dem brennenden Gebäude feuerte der Unterpolitruk [politische Führer] Broitman, der bereits zweimal an der Brust verwundet worden war, weiterhin auf den Feind, so dass dieser die Panzerluken nicht öffnen konnte. Neben ihm schoss der starschina [Hauptfeldwebel] des Feldpostens, Genosse Nagorski, heldenhaft mit einem Maschinengewehr auf den Feind. Stark blutend, gaben sie ihren Kameraden, die sich zu neuen Linien zurückzogen, mutig Feuerschutz. Beide fielen bei der tapferen Verteidigung ihres Sektors.« 35
Der Realität näher kam ein zynischer Witz jener Zeit: Ein Leutnant der Roten Armee wird am Straßenrand in einem verlassenen deutschen Lastwagen vorgefunden und aufgefordert, sich in Bewegung zu setzen, da man sonst auf ihn schießen werde. »Wer denn?«, erwidert er. »Die Deutschen werden meinen, es sei ihr Laster, und unsere Leute werden weglaufen.« 36 In den ersten Kriegswochen herrschte an der Nordwestfront fast völlige Verwirrung. In internen Meldungen war häufig davon die Rede, dass Einheiten sich »einzeln und in kleinen Gruppen« zurückzogen – ein Euphemismus für totales Chaos. Durch den deutschen Vormarsch isoliert, irrten große Mengen von Soldaten durch die verwüstete Landschaft, um entweder zu den sowjetischen Linien zurückzukehren oder um sich dem Feind zu ergeben. Durch Flugblätter wurde ihnen mitgeteilt, sie sollten sich als Partisanen betrachten, und man versuchte, sie mit der Nachricht von dem neuen sowjetisch-britischen Bündnis aufzumuntern. 37 So viele gerieten in Gefangenschaft, dass die Deutschen sie einfach in die nächstgelegenen sicheren Gebäude trieben, in denen es weder Nahrungsmittel noch sanitäre Einrichtungen oder sauberes Wasser gab. Diejenigen, die es schafften, ihre Einheiten ausfindig zu machen, wurden der Feigheit, der Fahnenflucht oder Spionage bezichtigt. Obwohl die Rote Armee das Terrain kannte, erfolgten ihre Versuche, Gegenangriffe zu führen, laut Halder »in einer Weise, die erkennen läßt, daß die Führung völlig desorientiert ist. Auch die Technik dieser Angriffe ist überraschend schlecht. Schützen auf Lastkraftwagen mit Panzern in einer Front fahren gegen unsere Feuerlinie los. Folge schwerste Verluste des Feindes.« Bis zum 3. Juli waren, wie Halder schätzte, zwölf bis fünfzehn der einundzwanzig Infanterie- und Panzerdivisionen der
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