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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Nordwestfront vernichtet worden. 38
    Das Chaos verstärkte sich durch die tödliche Suche nach Sündenböcken innerhalb des sowjetischen Oberkommandos. Das prominenteste Opfer war General Dmitri Pawlow, Befehlshaber der Westfront, den man am 4. Juli zusammen mit drei Untergebenen verhaftete und am 22. Juli hinrichtete. General Kopez, Chef des sowjetischen Kampfbomber-Kommandos, ersparte dem NKWD die Mühe, indem er am zweiten Kriegstag Selbstmord beging. Weiter unten in der Hierarchie wurden zahllose Offiziere nach dem Urteil von Militärgerichten kurzum erschossen: wegen »Feigheit«, da sie ohne Erlaubnis zurückgewichen seien. 39
    Von Moskau aus verlangte General Schukow, das Blutvergießen zu intensivieren. »Kommandeure, die sich ohne Befehl von den Verteidigungslinien zurückziehen und verräterisch ihre Positionen aufgeben«, wetterte er in einem Telegramm vom 10. Juli, »sind ungestraft geblieben. Auch scheinen unsere Vernichtungsbataillone [NKWD-Einheiten, die Deserteure zusammentrieben] noch nicht im Einsatz zu sein, denn sie erzielen keine sichtbaren Resultate.« Vertreter des Militärrats und des Militärstaatsanwalts sollten »rasch zu den vorderen Stellungen hinausfahren und mit Feiglingen und Verrätern an Ort und Stelle abrechnen«. 40 Daher der klägliche Tonfall vieler Frontberichte, in denen zumeist behauptet wird, Einheiten hätten, bevor sie sich zum Rückzug gezwungen sahen, »bis zur letzten Patrone« gekämpft. 41
    Bedeutsam für Leningrad war das Schicksal von Kirill Merezkow, dem stämmigen, stupsnasigen vierundvierzigjährigen General, der für die katastrophalen ersten Phasen des Krieges gegen Finnland verantwortlich gewesen und kurzzeitig zum Generalstabschef befördert worden war, bevor er den Posten im Januar 1941 an Schukow verlor. Er wurde in den ersten Kriegstagen verhaftet, nachdem sein Freund Pawlow ihn der Teilnahme an einer fiktiven antisowjetischen Verschwörung bezichtigt hatte. Im Gefängnis wurde er von einem der höchsten Stellvertreter Berijas – einem weiteren früheren Freund – mit einem Gummiknüppel geprügelt, bevor man ihn im September wieder in den Dienst schickte. Gesäubert und in Uniform, wurde er auf dem Weg zu Stalins Büro leutselig von seinem Folterer begrüßt. Er war mutig genug, keinen Gedächtnisschwund vorzutäuschen, und erklärte dem Mann tapfer: »Wir haben uns früher im Privatleben getroffen, aber nun habe ich Angst vor dir.« Stalin erkundigte sich nach Merezkows Gesundheit, ließ ihn freundlicherweise Platz nehmen und entsandte ihn als Vertreter des Hauptquartiers (Stawka) zur Nordwestfront. Nach seinen Erfahrungen zögerte er verständlicherweise, die Initiative zu ergreifen oder Befehle in Frage zu stellen, und er diente bis zum Ende des Krieges als einer der höchsten Befehlshaber der Armeegruppe. 42
    Neben dem Blutvergießen kam es zu einer Umbildung hoher Militärpositionen. Leningrad hatte das Pech, Marschall Kliment Woroschilow zugeteilt zu werden. Der eitle, adrette Sechzigjährige mit einem Menjoubärtchen und kleinen, hellblauen Augen wird häufig als ritterlicher, wenn auch unbeholfener alter Kämpe dargestellt (nicht zuletzt von Harrison Salisbury, der die Geschichte wiederholt, dass Woroschilow persönlich im September eine Gruppe von Marineinfanteristen – »das blonde Haar vom Wind zerzaust, die Gesichter frisch, das Kinn grimmig« – bei einem Bajonettangriff außerhalb von Krasnoje Selo angeführt habe. Vielleicht trifft die Geschichte zu). Doch in Wirklichkeit war er nicht nur militärisch unfähig – als Verteidigungskommissar hatte er die verhängnisvollen ersten Stadien des Winterkriegs zu verantworten –, sondern auch, wie Schdanow, als Organisator der Säuberungen, durch die die meisten hohen Offiziere der Roten Armee nur vier Jahre zuvor ausgelöscht worden waren, ein Schreibtisch-Massenmörder. Dmitri Wolkogonow, der den politischen Ausbildungsbereich der Sowjetarmee leitete, bevor er der erste wichtige Stalin-Biograf der Glasnost-Ära wurde, nimmt kein Blatt vor den Mund: »Mittelmäßig, unscheinbar, von minderer Intelligenz«, sei »Woroschilow nichts anderes als ein Henker, ein Handlanger des Oberhenkers« gewesen. 43 Woroschilows Stellvertreter, Marschall Grigori Kulik, hatte ihm nichts voraus. Ebenfalls ein alter Kavallerist des Bürgerkriegs und ein Spießgeselle des sadistischen NKWD-Chefs Lawrenti Berija, war er ein tyrannischer, unwissender Trunkenbold, der die 54. Armee im Süden von Leningrad inkompetent

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