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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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die Wehrmacht habe einen runden Panzer, der Granaten wie ein Teufelsrad ausspeie; und ein deutscher Fallschirmjäger sei auf den Blumenbeeten des Taurischen Gartens gelandet, wo er knapp dem Schicksal entgangen sei, von alten Damen mit Mistforken getötet zu werden. 3
    Die Behörden versuchten, die Gerüchteküche stillzulegen. Das Exekutivkomitee des Stadtsowjets verbot seinen Angestellten, am Telefon über den Krieg zu sprechen, wenn sie nicht wegen »Preisgabe von Militärgeheimnissen« vor Gericht gestellt werden wollten. Weitere »Defätisten« wurden laut einem neuen Gesetz verhaftet, nach dem diejenigen, die »falsche Gerüchte zur Erregung von Unruhe unter der Bevölkerung« verbreiteten, vor ein Militärgericht gestellt wurden. 4 Zugleich jedoch brachte die Führung eigene Gerüchte in Umlauf, um die Aufmerksamkeit von den Katastrophen an der Front abzulenken, indem sie die Furcht vor Spionen, Saboteuren und raketniki anheizte. Diese »Raketenmänner« übermittelten feindlichen Flugzeugen angeblich dadurch Signale, dass sie Leuchtkugeln von Dächern in den Himmel schossen. Reiseführer und Karten mussten – ebenso wie Fahrräder, Kameras und tragbare Radios – in einer Spezialabteilung abgegeben werden. Die Schaffner von Straßenbahnen und Oberleitungsbussen riefen die Haltestellen nicht mehr aus, Straßenschilder wurden übermalt und Namensschilder von den Fassaden bekannter Institutionen entfernt. Es war gefährlich, sich nach dem Weg zu erkundigen oder in der Öffentlichkeit ausländisch wirkende Kleidung zu tragen. Dmitri Lichatschow wurde wegen seines hellgrauen Mantels von kleinen Jungen verfolgt (»Helle Kleidung«, erinnerte er sich, »war in der UdSSR nicht üblich.«), und Jelena Skrjabina, die ihren hochgewachsenen, bebrillten Sohn Dima ganz kurz vor einem Geschäft zurückgelassen hatte, stellte bei ihrer Rückkehr fest, dass er von einem Polizisten befragt wurde. Sie konnte dem Mann Dimas Identität nur nachweisen, indem sie den Militärausweis ihres Mannes vorlegte und betonte, dass Dima, da er noch nicht sechzehn Jahre alt sei, keinen eigenen Pass besitzen dürfe. 5 Eine andere Tagebuchschreiberin, Jelena Kotschina, bemerkte, dass sie selbst nicht immun gegen den Spionenwahn gewesen sei, der wie »eine ansteckende Krankheit« um sich gegriffen habe:
    Gestern packte mich eine kleine alte Frau. Sie sah aus wie eine mit einem Regenmantel bekleidete Flunder.
    »Haben Sie das gesehen? Bestimmt ein Spion!«, rief sie und winkte einem Mann mit ihrem kurzen Arm hinterher.
    »Was denn?«
    »Seine Hose und seine Jacke hatten unterschiedliche Farben.«
    Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
    »Und sein Schnurrbart sah aus, als hätte er ihn sich angeklebt.« Ihre eng zusammenstehenden Augen bohrten sich in mein Gesicht.
    »Entschuldigen Sie …« Ich riss mich los, doch sie folgte mir noch ein paar Schritte den Bürgersteig entlang.
    Aber … sogar mir kamen viele Leute verdächtig vor, und es schien, als lohne es sich, sie im Auge zu behalten. 6
    Obwohl die Manie sich weit bis in den Herbst fortsetzte und die Geschichten über raketniki sogar bei einigen klugen Beobachtern – zum Beispiel bei dem anglo-russischen BBC-Korrespondenten Alexander Werth – Glauben fanden, gibt es keinen einzigen verlässlichen Hinweis darauf, dass jemals ein wirklicher ausländischer Spion (im Unterschied zu örtlichen Sympathisanten) in der Stadt entdeckt wurde.
    Vier Wochen nach dem Angriff war die Stimmung in Leningrad durch eine verwirrte Vorahnung, durch den Gegensatz zwischen einer annähernd normalen Situation auf den Straßen und den erschütternden Rundfunknachrichten gekennzeichnet. »Man möchte nicht glauben, daß wir Krieg haben«, schrieb der gelähmte Archivar Georgi Knjasew. »Alles ist ruhig, zumindest äußerlich.« Es war weiterhin heiß und fast windstill, der Flaum der Pappeln, den die Russen puch nennen, schwebte an den Rinnsteinen entlang, und abends versammelten sich Büroarbeiter wie üblich auf dem Rumjanzew-Platz, um Domino zu spielen. Knjasew, der eines Abends während einer Luftschutzübung vor dem Gebäude der Akademiemitglieder saß, beobachtete, wie eine Gruppe junger Mädchen Sand auf einen Lastwagen schaufelte, während Jungen in Badehosen in den Fluss tauchten oder sich rittlings auf die glatten Steinrücken der ägyptischen Sphinxen setzten. Die Frau eines Akademiemitglieds, die Handschuhe und einen Hut trug, stand Wache. Im Gespräch mit dem Hausverwalter versuchte Knjasew, ein

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