Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Luftangriffen rechnete. Eine der am besten vorbereiteten Institutionen war die Eremitage dank der Klugheit ihres Direktors Jossif Orbeli, der den Vorwurf der Kriegstreiberei riskiert hatte, indem er Monate zuvor diskret Verpackungsmaterial (darunter fünfzig Tonnen Sägespäne, drei Tonnen Baumwollwatte und sechzehn Kilometer Wachstuch) hortete. Er befahl, die vierzig kostbarsten Gemälde des Museums unverzüglich in die mit Stahl ausgekleideten Gewölbe zu verlagern, die die berühmte Skythen-Gold-Sammlung enthielten, und schon am folgenden Morgen widmeten sich Personal und Freiwillige der gigantischen Aufgabe, die riesige und wunderbare Sammlung – von geflügelten babylonischen Bullen bis hin zu Fabergés Schneeglöckchen in Jade und Kristall – abzubauen, auseinanderzunehmen, in Kisten zu verpacken und zu katalogisieren. »Wir arbeiten vom Morgen bis zum späten Abend«, schrieb eine Kunststudentin.
Uns kribbeln die Beine. Wir nehmen die Gemälde von den Wänden. Es fehlt das übliche Gefühl der Ehrfurcht vor den Meisterwerken, obwohl wir [Tizians] Danaë bewusst langsam einwickeln … Und nun packen die Bildhauer Gegenstände in Kisten. Orbeli ist überall in den Sälen … Die leere Eremitage gleicht einem Haus nach einer Beerdigung. 18
Wann immer möglich, wurden Gemälde flach verpackt, doch wenn sie zu groß für einen Eisenbahnwaggon waren, mussten sie zusammengerollt werden, darunter auch, nach langem qualvollem Hin und Her, Rembrandts bruchgefährdete Kreuzabnahme . Nur ein Bild – Rembrandts Verlorener Sohn wurde allein in einer Kiste untergebracht, und nur drei weitere – zwei Madonnen von Leonardo und Raffaels exquisite Madonna Conestabile – blieben in ihren Rahmen. Die übrigen – Werke von Giorgione, Tiepolo, Brueghel, van Dyck, Holbein, Rubens, Gainsborough, Canaletto, Velázquez und El Greco – wurden aus ihren Spannrahmen entfernt, wonach man die leeren Rahmen wie vorher an die Galeriewände hängte. Houdons prächtige Voltaire-Skulptur, dominiert von der Hakennase und dem verzerrten Lächeln des Philosophen, wurde mit Hilfe von Matrosen, die Holzrollen und einen Flaschenzug benutzten, drei Aufgänge einer Galatreppe hinuntergelassen. Die Tschertomlyk-Vase, ein prachtvoll mit Tauben und Pferden geschmücktes Silbergefäß aus dem vierten Jahrhundert v.Chr., musste mit winzigen Korkkrümeln gefüllt werden: Zwei Frauen verbrachten die Nacht damit, die Krümel geduldig mit Teelöffeln durch einen Riss in der Tülle zu zwängen.
Nach sechs Tagen und Nächten gespannter Aktivität verließ eine erste Zugladung von Schätzen – ungefähr eine halbe Million Stücke in über tausend Kisten – die Stadt am 1. Juli. Ursprünglich für die Auslagerung von Maschinen aus der Kirow-Waffenfabrik gedacht, bestand er aus zwei Lokomotiven, zweiundzwanzig Güterwaggons, einem Panzerwagen für die wertvollsten Stücke, Personenwaggons für Wachmänner und Eremitage-Angestellte sowie aus Tiefladern für Flugabwehrgeschütze an beiden Enden. Sein Ziel, das nur ein paar Eingeweihte kannten, war Swerdlowsk im Ural (das frühere Jekaterinenburg, wo man Nikolaus II. und seine Angehörigen ermordet hatte). Ein zweiter Zug, der 700000 Stücke in 422 Kisten enthielt, fuhr am 20. Juli ab. Orbelis Verpackungsmaterial war nun aufgebraucht, und die Ägyptologin Miliza Matje wurde beauftragt, mehr Material zu finden. »Fast zwei Jahre lang«, staunte sie später, »hatten zwei lange, glatte Stäbe in einer Ecke meines Büros gestanden. Ich hätte nie geglaubt, dass ich sie eines Tages in Stoff aus dem koptischen Ägypten einwickeln und in den Ural schicken würde.« 19 Sie erbat sich in Läden und Lagerhäusern alles mögliche Material, von Sägemehl bis zu Eierschachteln, und konnte schließlich weitere 351 Kisten packen. Als sie bereitstanden, hatte sich der Belagerungsring allerdings fast geschlossen, und die Kisten wurden für die Dauer des Krieges in einer Galerie im Erdgeschoss des Winterpalais gestapelt.
In den zweiten Eremitage-Zug hat man auch Lomonossows Mosaik vom Sieg Peters des Großen bei Poltawa über die Schweden geladen, das am Kopf der Haupttreppe im Gebäude der Akademie der Wissenschaften am Wassiljewski-Kai hing (und wieder hängt). Knasjew beaufsichtigte die Abfahrt:
Mir fehlen die Worte, meine Stimmung zu beschreiben, als das Mosaikporträt … Peters I. von der Wand genommen wurde … Die Mitarbeiter der Eremitage nahmen das Bild behutsam von der Wand und trugen es zum Auto. Ich beobachtete
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