Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
aufzurufen, als selbst in Aktion zu treten. Ich habe keine Ahnung, ob er krank war oder nicht, aber zum Glück gelang es ihm trotzdem, sein Buch über Gogol zu schreiben. 11
Obwohl Gretschina eher antibolschewistisch eingestellt war (ihren Vater, einen Arzt, hatte es durch die Revolution in eine winzige Dorfklinik verschlagen, und einer ihrer Onkel war später in den Gulag geschickt worden), verzichtete sie auf Kunstgriffe wie die ihres Professors, und in der dritten Juliwoche warteten sie und eine Gruppe Kommilitoninnen, zusammen mit Scharen von Evakuierten, am Moskauer Bahnhof auf einen Zug zur Luga-Linie.
Aus den Schützengräben – und besonders aus der Gegend um Luga – hörte man beängstigende Berichte über Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe. Aber keiner von uns wusste, welches Ziel wir hatten, und als wir an jenem Abend aufbrachen, sangen wir fröhliche Lieder, um uns von unserer inneren Unruhe abzulenken. Bei unserer Ankunft in Gattschina war es bereits dunkel. Wir wurden zu einem Park neben dem Pawlowsk-Palast gefahren, wo wir die Nacht verbringen sollten, doch wir machten kein Auge zu, da die Deutschen einen nahegelegenen Flugplatz bombardierten und alles um uns herum brummte und bebte. Man befahl uns aufzustehen, alles, was von weißer Farbe war, zu verbergen und nicht zu rauchen. Danach gingen wir rasch eine Straße entlang, die schon voll von unseren Einheiten war. Die Soldaten marschierten zügig und leise; wenn einer ein Geräusch machte, brachten die anderen ihn zum Schweigen und tadelten ihn wegen seiner Unachtsamkeit. Da wir nicht wussten, wohin wir unterwegs waren – und warum –, fühlten wir uns noch eingeschüchterter. Wir alle waren so durstig, dass wir, als die Straße durch einen Wald führte, schlammiges Wasser aus einem der Gräben am Wegrand tranken.
Am Morgen, nachdem die Studentinnen zwanzig Kilometer zurückgelegt hatten, erreichten sie ein Dorf, wo sie jeweils zu zweit oder dritt einem der Haushalte zugeteilt wurden. Am Nachmittag erklärte man ihnen ihre Aufgabe:
Wir sollten Panzergräben (1,2 Meter tief) und Schutzwälle (angeblich einen Meter hoch) ausheben. Obgleich unsere einzigen Werkzeuge Schaufeln, Äxte und Tragbahren [um Erde zu befördern] waren, machten wir uns begeistert an die Arbeit. Die Tage waren sonnig und heiß. Wir arbeiteten von 5 bis 20 oder 21 Uhr, mit einer zwei- oder dreistündigen Ruhepause nach dem Mittagessen. Wir wurden gut ernährt, doch es gab keinen Tee, abgesehen von dem, was unsere Hauswirtin aus Lindenblüten herstellte. Physisch war es sehr anstrengend, und nach zwei Wochen konnte ich mich, als ich versuchte, eine Bahre anzuheben, kaum wieder aufrichten. 12
Gretschina hatte Glück, dass sie nur ihren Rücken überanstrengte. Jelena Kotschina dagegen gehörte zu den vielen Gräberinnen, die von deutschen Stukas beschossen wurden:
Alle Mitarbeiter unseres Labors hoben heute Panzergräben um Leningrad aus. Ich schaufelte die Erde mit Vergnügen (wenigstens war es etwas Praktisches!) … Fast alle, die in den Gräben arbeiteten, waren Frauen. Ihre bunten Kopftücher blitzten hell in der Sonne. Es war, als wäre die Stadt von einem riesigen Blumenbeet umgeben.
Plötzlich verdeckten die funkelnden Tragflächen eines Flugzeugs den Himmel. Ein Maschinengewehr feuerte, und Kugeln bohrten sich, raschelnd wie kleine Metall-Eidechsen, in meiner Nähe ins Gras. Ich blieb wie angewurzelt stehen und vergaß all die Luftschutzmaßnahmen, die ich kurz vorher erlernt hatte.
»Lauf!«, rief jemand und zerrte an meinem Ärmel. Ich blickte mich um. Alle, die in den Gräben gearbeitet hatten, waren weggelaufen. Auch ich rannte los, obwohl ich nicht wusste, wohin ich fliehen und was ich tun sollte … Plötzlich sah ich eine kleine Brücke. Ich rannte auf sie zu. Darunter war eine tiefe Pfütze. Eine ganze Stunde lang hockten wir in dieser Pfütze und arbeiteten den Rest des Tages nicht mehr. 13
Jelena Skrjabina, die von den Tieffliegerangriffen hörte und sich sorgte, dass man ihren Sohn Dima zum Graben abordnen könnte, hielt die Mühe für sinnlos: »Man sieht junge Mädchen in Sommerkleidern und Sandalen – man hat ihnen nicht mal erlaubt, nach Hause zu fahren, sich umzuziehen und wenigstens das Nötigste mitzunehmen. Was für einen Nutzen verspricht man sich wohl davon? Diese Stadtjugend kann ja nicht einmal mit einer Schaufel umgehen, geschweige denn mit Pickeln oder Brecheisen, ohne die sie nicht auskommen, weil der Boden an manchen Stellen
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