Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
»Gefühl der Fröhlichkeit und Ausdauer« anklingen zu lassen, doch der Mann konnte nicht verstehen, weshalb der Krieg sich nicht entwickelte, wie es sonst in den Filmen gezeigt wurde. »›Traurig, daß auf unserem Territorium gekämpft wird‹«, sagte er. »›Da wird viel zerstört. Weshalb wurden die Befestigungen der alten Staatsgrenze kampflos aufgegeben?‹ Ich wußte keine Antwort. Wir sind sehr schlecht informiert. Ich weiß nicht, ob die Deutschen noch weit weg sind oder schon nahe. Besteht für Leningrad ernste Gefahr oder nicht?« Die Luft roch schwach nach Rauch, denn man hatte Torfmoore angezündet, um feindliche Piloten zu verwirren. 7
Anna Ostroumowa-Lebedewa, die bejahrte Künstlerin, die durch Stalins Rundfunkrede so ermutigt worden war, wohnte einem Lazarett gegenüber. Wenn Luftschutzübungen abgehalten wurden, schaute sie zu, wie man die Verwundeten auf Tragbahren in die Bunker brachte und wie Medizinstudenten durch Falltüren auf das Lazarettdach kletterten. »Bisher ist keine einzige Bombe auf Leningrad gefallen«, schrieb sie am 21. Juli,
obwohl die Sirenen oft losgehen. Gestern Nacht gab es Fliegeralarm um 0.30 Uhr und noch einmal um 5.30 Uhr. Ich wachte auf, und die Flugabwehrgeschütze feuerten so laut, dass ich nicht wieder einschlafen konnte. Ich zog mich an und setzte mich im Hof auf eine Bank. Der Himmel war klar, und die Sonne hatte die Gebäude noch nicht erreicht, schien jedoch hell auf die über den Himmel zerstreuten Sperrballons. Sie trieben in dem sanften blauen Äther dahin wie silberne Schiffe. Man konnte ihre Kabel nicht sehen, und sie schienen ungehindert am Himmel zu schweben.
Die meisten öffentlichen Parks waren geschlossen, damit Luftschutzkeller ausgehoben werden konnten, aber Ostroumowa-Lebedewa durfte den Botanischen Garten betreten:
Der Garten war noch in Ordnung, doch nicht so sorgfältig gepflegt wie sonst. Große Freude bereiteten mir die wunderbaren Hortensien; weiße, rosa und hellblaue Sträuße wuchsen in mächtigen Blumenkübeln – Explosionen von unglaublicher Schönheit –, und keine Seele war dort. Die Sonne spielte auf dem Gras und schien durch die Blätter der Bäume. Das Licht züngelte über die Bank, unsere Kleider, die Seiten unserer Bücher. Eine kühle Brise wehte vom Fluss heran. Ich gab mich Momenten sanfter Ruhe hin und vergaß einen Sekundenbruchteil lang, dass wir Krieg führen, dass Menschen sterben und Städte brennen. 8
Unter anderem wirkte die Stadt so seltsam ruhig, weil man über 50000 Leningrader, hauptsächlich Frauen und Teenager, hundert Kilometer nach Südosten geschickt hatte, um neue Verteidigungsstellungen an der sogenannten Luga-Linie zu bauen. Die ersten Brigaden hatten die Arbeit am 29. Juni aufgenommen, doch die Linie wurde erst am 4. Juli amtlich festgelegt, als Schukow der Nordwestlichen Armeegruppe befahl, Verteidigungsstellungen von Narwa, hundertzwanzig Kilometer westlich von Leningrad an der Ostseeküste gelegen, über Luga und Staraja Russa bis nach Borowitschi, zweihundertfünfzig Kilometer südöstlich der Stadt, zu errichten. Der stärkste Sektor, hinter dem Fluss Luga, sollte aus einer fünfzehn Kilometer tiefen Abfolge von Minenfeldern, Flugabwehrgeschützen und Absperrungen bestehen – mit einer Lücke zwischen Luga und Gattschina, 9 durch die die Rote Armee zurückweichen konnte. Außerdem wurde die Arbeit an zwei inneren Ringen angeordnet: Der eine führte von Peterhof am Finnischen Meerbusen über Gattschina nach Kolpino, der andere umschloss die Stadt vom Handelshafen an der Mündung der Newa bis hin zu dem flussaufwärts gelegenen Fischerdorf Rybazkoje. 10 Eine der vielen tausend Teenagerinnen, die zur Arbeit an der Luga-Linie einberufen wurden, war Olga Gretschina, eine siebzehnjährige Studentin an der Leningrader Universität. In ihren Erinnerungen verzeichnete sie sarkastisch:
An der Philologischen Fakultät hielt unser Idol, Professor Grigori Gukowski, auf einer Studentenversammlung eine mitreißende Rede und forderte uns auf, dem Freiwilligenbataillon der Studenten beizutreten. Viele unterschrieben an Ort und Stelle … Alle erwarteten, dass auch Gukowski selbst sich irgendwo melden werde, da viele unserer Lehrer sich entweder als Übersetzer oder politische Arbeiter bewarben. Aber Gukowski erschien plötzlich mit grünen Hausschuhen und einem Spazierstock. Manche meinten, er leide unter akutem Rheumatismus, andere deuteten vorsichtig an, dass es ihm viel leichter falle, Leute zum Handeln
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