Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
ignorieren und sich an dem verlassenen Schlosspark zu erfreuen. Eine Nichte war aus der Stadt zu Besuch gekommen. »Von ihr erfuhr ich, wie rasch die deutsche Attacke vor sich ging. Sie rücken auf Leningrad vor. Wir haben beschlossen, auf dem Land zu bleiben, bis Luga erobert ist.«
Die Überschwemmung setzte eine Woche später ein. Am 8. August griffen Reinhardts Panzer im strömenden Regen den nördlichen Sektor der Luga-Linie bei Kingissepp an. Nach drei Tagen chaotischer Kämpfe überquerten sie den Fluss Luga an drei Stellen, was 1600 deutsche Opfer kostete. Mansteins 8. Panzerdivision, die sich mittlerweile von dem Rückschlag bei Solzy erholt hatte, unterbrach die Kingissepp-Gattschina-Eisenbahnlinie am 12. August. Eine sowjetische Gegenoffensive bei Staraja Russa, die stückweise seit dem 10. August eingeleitet wurde, scheiterte unter massiven Verlusten an Männern und Gerät. »Wir stießen ein bisschen weiter vor«, schrieb ein Artillerist, der eine Kanone auf Holzrädern, gezogen von sechs Pferden, durch die Wälder sechzig Kilometer südwestlich von Leningrad manövrieren musste:
Auf dem höheren Terrain angekommen, sahen wir eine riesige, in Panik geratene Menschenmenge vor uns, die sich völlig ungeordnet in Richtung Wolossowo bewegte. Auf einem Karren lag ein stöhnender Soldat, der darum flehte, seine Wunden zu verbinden. Ein Mädchen mit einer Arzttasche schritt in seiner Nähe dahin, aber sie hatte Angst, ihr Tempo zu verringern und ihm zu helfen. Hinter uns konnten wir das Klirren von Metall hören – deutsche Panzer. Jemand rief dem Mädchen zu, sie solle dem Verwundeten helfen. Wir drehten uns um und kehrten rasch an die Stelle zurück, wo wir unsere Kanonen hatten stehen lassen. Aber die Geschütze und die Männer waren verschwunden. Als wir aus dem Wald auf eine Lichtung traten, sahen wir, wie sich Batterie Nr. 4 unter Panzerfeuer dahinschleppte … Eine Granate explodierte genau unter den Läufen des Pferdes, das den Gepäckkarren zog. Das Pferd stürzte, und obwohl der Karren mit all unseren Sachen, auch unseren Mänteln, beladen war, konnten wir ihn nicht erreichen, weil die Panzer schon zu nahe, teils sogar vor uns, waren. 24
Im Süden rückte Küchlers 18. Armee auf Nowgorod vor, die historische Hauptstadt eines der Rus-Fürstentümer des neunten Jahrhunderts und das Tor zum Ilmensee. Die Stadt fiel am 17. August – nicht eingestanden von der Sowinform, die bis zum 23. August wartete, bevor sie Kämpfe »in der Nowgoroder Gegend« erwähnte. Insgesamt verlor die sowjetische 34. Armee vom 10. bis zum 28. August die Hälfte ihrer Männer, 74 ihrer 83 Panzer, 628 ihrer 748 Geschütze und Minenwerfer, 670 Lastwagen und 14912 Pferde. Um dem Gemetzel zu entgehen, flohen zahlreiche Soldaten oder verstümmelten sich selbst, in der Hoffnung, dienstuntauglich erklärt und in die Etappe geschickt zu werden. Zwischen dem 16. und dem 22. August wurden über 4000 Männer als mutmaßliche Deserteure bei dem Versuch verhaftet, Leningrad von der Front her zu erreichen, und laut einem besorgten politischen Bericht vom 30. August verdächtigte man in einigen Sanitätseinheiten bis zu fünfzig Prozent der Verwundeten der Selbstverstümmelung: Zum Beispiel waren im Evakuierungslazarett Nr. 61 von 1000 Verwundeten 460 in den linken Unterarm oder die linke Hand geschossen worden. 25
Stalin reagierte mit einem wütenden Telegramm an Schdanow und Woroschilow auf die katastrophalen Meldungen. Wenn die deutschen Heere noch mehr Siege um Nowgorod davontrügen, wetterte er, seien sie vielleicht in der Lage, Leningrad im Osten zu umgehen, die Kommunikationslinien mit Moskau zu zerstören und sich mit den Finnen östlich des Ladogasees zusammenzuschließen.
Wir haben den Eindruck, dass das Oberkommando der Nordwestfront diese tödliche Gefahr nicht erkennt und deshalb keine speziellen Maßnahmen zu ihrer Beseitigung ergreift. Die deutsche Stärke in der Gegend ist nicht groß, weshalb wir nur drei frische Divisionen unter geschickter Führung einzusetzen brauchen. Stawka kann diese fatalistische Stimmung, das Unvermögen, entscheidende Schritte zu unternehmen, und Argumente, dass alles getan werde, was getan werden könne, nicht akzeptieren. 26
Drei Tage später erfüllten sich Stalins Befürchtungen, als Tschudowo fiel, eine Stadt an der Haupteisenbahnlinie zwischen Moskau und Leningrad. Am 22. August wandte sich Schdanow mit der Bitte um Verstärkungen an Stalin. Die zweiundzwanzig Schützendivisionen der
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