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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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der Nachricht teilnahmslos, schob sie beiseite. Man ließ uns dort nicht einmal seinen Sarg aufstellen, weshalb wir ihn zu seiner Familie brachten. Ihr Zimmer ist sogar ohne den Sarg sehr klein, und wir konnten uns kaum darin umdrehen. Heute ist er beerdigt worden. Ich wollte zur Beerdigung gehen, aber ich konnte es nicht ertragen, zu seiner Wohnung zurückzukehren – oder, genauer gesagt, seiner Mutter erneut ins Gesicht zu schauen. Sie ist ganz und gar untröstlich. Besser, keine Tränen sehen zu müssen.
    An der Front traf er auf eine noch schlimmere Verwirrung als je zuvor. »Die Verbindung mit Puschkin ist verloren gegangen«, schrieb er am 16. »Wir fuhren nach Schuschari, wohin wir unsere mobilen Geschützstellungen bringen sollen, aber es gibt keine Transportmittel, und wir wissen nichts mit den Geschützen anzufangen. Die Situation ist bis ganz nach oben die gleiche.« Im Hauptquartier, wo er um Fahrzeuge bat, »schienen zehn Personen jedes Problem lösen zu wollen«:
    Mein Eindruck ist, dass sie zumeist gewöhnliche Bürokraten in Militäruniform sind. Gestern hatte ich es endlich satt. Ich erklärte ihnen, dass wir im Schlamassel steckten. Vermutlich waren viele von ihnen meiner Meinung … Hier ist ein Beispiel – etwas, das sich tatsächlich in Pawlowsk zutrug. Die Lastwagenfahrer, die uns mit Ersatzteilen versorgen, müssen Lieferscheine ausfüllen, jeweils mit einer Abteilungsnummer genau wie in der Stadt. Der Transportleiter warnte mich, dass alles korrekt erledigt werden müsse, doch dass ein bestimmter Fahrer unerfahren sei und Hilfe benötige. Sein Formular auszufüllen dauerte dreißig Minuten, und das an der Front! Oh, wie wir Papier anbeten! Die Deutschen haben wahrscheinlich ein einfaches Verfahren für all das …
    Die Etappe ist voll von Stabsoffizieren jeden Ranges. Alle laufen herum und wirken besorgt. Ich bin sicher, dass eine gute Hälfte von ihnen nichts tut. Ja, was die Führung angeht, erweist unsere Armee sich als ziemlich schwach. In den Fabriken findet man genug Desorganisation, aber hier ist es noch zehnmal schlimmer. Werden sie die Dinge denn nie anpacken? 8
    Während Tschekrisow sich damit abmühte, seine Unterstände zu bauen, die ohnehin bald gestürmt werden würden, war die achtundzwanzigjährige Anna Selenowa – eine energische und ernste junge Frau mit einer runden Brille und emanzipiert kurz geschnittenen Haaren – ein paar Kilometer weiter damit beschäftigt, die endgültige Evakuierung von Zar Pauls Pawlowsker Palast mit seinen Kuppeln und Kolonnaden zu organisieren. Es war, wie sie sich erinnerte, eine Zeit »unglaublicher Eile. Man hatte die Fenster des Palastes mit Brettern vernagelt. Da es keinen Strom gab, arbeiteten wir bei Kerzenlicht, oder wir verbrannten Taue und Papierfetzen.« Nachdem sie den, wie sich zeigen sollte, letzten Lastwagen nach Leningrad hatte beladen lassen, lief sie hinein, um die Bibliothek noch einmal zu überprüfen:
    Ich ging hinunter, rannte an den Schreibtischen und Schränken entlang und öffnete alle Türen. Und im letzten Schrank entdeckte ich ein paar Mappen. Ich machte eine auf und erstarrte. Hier waren sämtliche Originalpläne von Rossi [dem Architekten]. Dann öffnete ich die größte, und es schwirrte mir vor den Augen. Hier waren Camerons Zeichnungen – und Gonzagos, Quarenghis, Woronichins. Man hatte meine Anweisungen nicht befolgt. Diese unbezahlbaren Dokumente würden zurückgelassen werden.
    Die Mappen passten nicht in eine der Standardkisten, deshalb mussten wir eine besondere Box anfertigen. Zum Glück waren die Tischler noch da. Ich nannte ihnen die Maße, aber sie erwiderten: »Wir haben kein Holz mehr.« Also befahl ich ihnen, eine Truhe, die Kissen enthielt, auseinanderzubrechen. Während die Kiste gezimmert wurde, entschloss ich mich, einen Akt des Vandalismus zu begehen. Mich quälte die Tatsache, dass die einzigartigen Gobelinbezüge von Woronichins Möbeln aus dem Griechischen Saal zurückgelassen werden sollten. Die Stühle konnten wir nicht retten, aber die Gobelins. Jedes Stück war mit Hunderten winziger vergoldeter Nägel befestigt. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht überwinden können, sie zu berühren, wenn nicht genau in jenem Moment eine Kanone abgefeuert worden wäre. Unter diesen Umständen griff ich nach einer Rasierklinge und schlitzte die Polster so dicht wie möglich an den Nägeln auf. Dann legten wir die Mappen, mit den Gobelins dazwischen, in die neue Kiste.
    Als Nächstes musste man sich um

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