Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
Baltikflotte. Durch Schukows Ankunft änderte sich die Stimmung: »Die Lage war kritisch! Es gab aber noch einige ungenutzte Möglichkeiten. Letztlich wurde beschlossen, die Stadt bis zum äußersten zu verteidigen.« 6 Die ganze Nacht hindurch diskutierte der Rat darüber, wie man die Verteidigungsstellungen von Leningrad am besten stärken könne, besonders um Pulkowo, einen Vorort, der an einer kleinen Hügelkette (auf der das älteste Observatorium Russlands stand) zwölf Kilometer südlich der Stadt lag. Zu Schukows Improvisationen gehörten der Umbau von Flakgeschützen für das Nahkampffeuer auf Panzer, die Abordnung von Matrosen der Baltikflotte zur Infanterie und der Transport von Marinegeschützen aus den blockierten Schiffen der Flotte an die schwächsten Frontsektoren. Unter den Kanonen, die man nach Pulkowo schickte, waren auch die des Panzerkreuzers Aurora , dessen Leerschuss aus einer Vorderdeckkanone den Beginn der Oktoberrevolution signalisiert hatte. Außerdem verlegte Schukow einen Teil der 23. Armee, die den »unterwürfigen« Finnen an der karelischen Meerenge gegenüberstand, nach Süden zur Bekämpfung der Deutschen, und er gab die Pläne zur Versenkung der Baltikflotte auf. »Wenn sie sinken soll«, erklärte er, »dann in der Schlacht, mit feuernden Geschützen.« Chosin wurde Generalstabschef der Nordwestfront, und Fedjuninski fuhr zur Inspektion der 42. Armee nach Pulkowo. Die Moral dort sei angeschlagen, meldete er. Das Hauptquartier habe den Kontakt zu den Fronteinheiten verloren und verlagere sich selbst weit nach hinten, in den Keller einer Fabrik der Kirow-Werke. »Übernimm die 42. Armee«, befahl Schukow ihm, »und zwar schnell.« 7
    An vorderster Front machte Schukows Ankunft zunächst nicht viel aus, hier blieb es so chaotisch wie eh und je. Wassili Tschekrisow war ein neununddreißigjähriger Chefingenieur in der Sudomech-Werft. Er hatte ein langes Gesicht, große, ernste Augen und einen dünnen Schnurrbart. Während des Terrors war er degradiert worden und hatte vorübergehend seinen Parteiausweis verloren. Diese Erfahrung hatte ihn jedoch nicht vorsichtiger werden lassen. Im Lauf der Belagerung sollte er in einen zunehmenden Konflikt mit seinen korrupten Vorgesetzten geraten, und er war immer wieder schockiert über die Kluft zwischen Parteirhetorik und Realität. Am 1. September hatte man ihn mit einem Trupp zu einem Dorf bei Puschkin entsandt, wo sie armierte Feuerstellungen – mit dem Spitznamen »Woroschilow-Hotels« – bauen sollten. Die Szene, auf die er stieß, wiederholte sich in jenem September überall an der Ostfront: Scharen von Bauern, die überladene Wagen fuhren oder mit Bündeln auf der Schulter dahinstapften; ein berittener Bote, der sich laut rufend durch die Menge drängte; unrasierte Offiziere in zerknüllten Wintermänteln; Soldaten, die sich auf einer Parkbank Tee kochten; ein Junge, der eine Ziege an einer Schnur hinter sich herzog. Tschekrisows Vorschlag, die Unterstände weiter hinten zu bauen, wurde, wie er seinem Tagebuch anvertraute, nicht geschätzt. Später, in der Dämmerung, konnte er die Feuer von drei brennenden Dörfern sehen.
    In den folgenden beiden Tagen wurde die Gegend immer stärkerem Geschützfeuer ausgesetzt, wodurch Tschekrisow und seine Leute gezwungen waren, bei Nacht zu arbeiten. Da es ihnen an Kränen und Traktoren fehlte, schleppten sie Wasser in Eimern und Betonklötze per Hand heran. Ihr Quartier teilten sie mit einer Gruppe achtzehn- und neunzehnjähriger Krankenschwestern, die, wie die Männer, in Schichten auf dem Fußboden oder auf Tischen schliefen. »Von den elf«, notierte Tschekrisow erbittert, »ist nur eine im Besitz einer Decke. Uns geht es nicht anders, aber wir haben wenigstens Mäntel. Es ist erst unser vierter Tag, doch sie sind schon seit anderthalb Monaten hier. Könnte das Hauptquartier sie wirklich an keinem besseren Ort unterbringen?« Am 11. September erlebte er seinen ersten Bombenangriff und war erschüttert über die Furcht und Bestürzung in den Gesichtern der Menschen. »Es war interessant, als blicke man in einen Spiegel. Sah meines wirklich genauso aus?« Zwei Mitglieder seiner Gruppe – Jungen von noch nicht zwanzig Jahren, die ein paar Tage zuvor Cognac geschlürft und »im Partisanenstil« vor den Krankenschwestern geprahlt hatten – waren durch den Angriff schwer verletzt worden, und einer starb über Nacht. Tschekrisow begleitete die Leiche zurück nach Leningrad:
    In der Fabrik begegnete man

Weitere Kostenlose Bücher