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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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die Skulpturen des Palastes kümmern, die in den nackten Galerien nun schmerzlich schön wirkten. Sorgfältig schoben Selenowa und ihr Personal die Werke in eine unauffällige Ecke des Schlosskellers und mauerten sie ein. Damit sich die neue Wand ihrer Umgebung anpasste, wurde sie mit Schlamm und Sand beschmiert. Die über den Park verstreuten Statuen – Apoll, Merkur, Flora, Niobe mit ihren weinenden Kindern – wurden an Ort und Stelle vergraben. Auf den weißen Marmor von Justitia und Pax schrieb ein Arbeiter: »Wir werden zurückkommen und euch holen«, bevor er sie vergrub und die Stelle mit gefallenen Blättern tarnte.
    Die Rote Armee befand sich nun auf ganzer Linie auf dem Rückzug. Als Selenowa den Palast am Morgen des 19. September betrat, stellte sie zu ihrem Ärger fest, dass verstaubte Militärmotorräder nachlässig zwischen den Fliederbüschen von Zarin Maria Fjodorownas holländischem Garten geparkt waren. In ihrem Büro saß ein Major, der die Kurbel eines Telefons drehte:
    Ich war erstaunt über die Müdigkeit seines Gesichts. Jemand grunzte am anderen Ende des Kabels, und er erwiderte (offenbar nicht zum ersten Mal), dass er nicht eingehängt habe, dass die Verbindung schlecht sei und dass er über nicht mehr Männer verfüge. Die Person am anderen Ende knurrte immer noch wütend. Der Major legte den Empfänger ganz langsam nieder, und ich begann: »Könnten Sie Ihren Soldaten sofort befehlen, ihre Motorräder aus den Privatgärten zu entfernen?« Er fragte: »Wessen Privatgärten?« Und dieser arme, erschöpfte Major musste sich eine ganze Vorlesung über Cameron anhören.
    Am Abend erhielt Selenowa einen Anruf von der Leningrader Museumsverwaltung und erfuhr, dass sie zur Direktorin von Pawlowsk ernannt worden sei – eine nichtige Beförderung, da sie gleichzeitig offiziell die Verantwortung für die »rasche Evakuierung« erhielt. »Dann brach der Anruf ab, weshalb ich nichts erklären konnte … Ich wusste, dass wir abfahren mussten, doch wie konnten wir all die Kisten, die wir vorbereitet hatten, und die Dinge, die noch nicht verpackt waren, im Stich lassen? Nein, lasst uns weiterarbeiten!« Da keine Lastwagen mehr aus Leningrad eintreffen würden, beschlagnahmte sie mehrere Pferdekarren:
    Nachdem wir den letzten Kutscher verabschiedet hatten, erschien ein grüner MK. Ein kleiner Leutnant sprang aus dem Wagen und fragte mit einer unerwartet lauten, herrischen Stimme: »Wer sind Sie und was tun Sie hier?« Ich erklärte, dass ich die Direktorin des Palastmuseums und -parks sei, und stellte die anderen als meine Kollegen vor. Der Leutnant explodierte: »Aber alle in der Stadt sind evakuiert worden.«
    »Wir organisieren die Evakuierung selbst und warten auf Fahrzeuge.«
    »Es wird keine geben! Sie haben Glück, dass ich hergekommen bin, um mich zu überzeugen, dass alle aus dem Divisionshauptquartier verschwunden sind. Steigen Sie sofort in mein Auto!«
    »Ich kann nicht aufbrechen, selbst wenn Sie es verlangen, denn ich bin auf Befehl des Oberkommandos hier.« Und ich nannte ihm die Nummer des Befehls.
    »Sie verstehen nicht! Pawlowsk ist nicht an der Front, nicht einmal im Frontbereich. Es ist die deutsche Etappe!«
    Eine Sirene ertönte, und Selenowa lief ins Untergeschoss des Palastes, das zu einem Luftschutzkeller gemacht worden war. Samowaren und Nähmaschinen ausweichend, verkündete sie einer Schar von Frauen und Kindern, dass Pawlowsk aufgegeben worden sei; wer in die Stadt wolle, werde zu Fuß gehen müssen. Während sie sprach, stürmte ein Förster herein und rief: »Im Park sind deutsche Motorradfahrer. Ich habe sie selbst gesehen. Neben den Weißen Birken!« Selenowa begriff rasch, dass die Frauen sich nicht von der Stelle rühren würden. Also ging sie nach oben, leerte den Inhalt ihrer Schreibtischschublade in eine Aktentasche und machte sich zu Fuß in Richtung Leningrad auf.
    Sie brauchte die ganze Nacht, um die Strecke zurückzulegen, wobei sie in Stadtschuhen über Felder und durch Schrebergärten stolperte und sich beim Dröhnen von Artilleriefeuer in Gräben duckte. Unterwegs passierte sie den benachbarten Palastort Puschkin, wo in letzter Minute die gleichen Rettungsbemühungen wie in Pawlowsk – Tafelgeschirr wurde in frisch geschnittenem Gras verpackt, Silber in Zar Nikolaus’ Marineuniformen gewickelt – stattgefunden hatten. Als sie den Alexanderpark durchquerte, sah sie Rinaldis Chinesisches Theater unter Flammen zusammenstürzen; in Kolpino erhellte die

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