Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Niederlagen?« 34
Vera Inber erfuhr die Neuigkeit von ihrem Mann, der gehört hatte, dass ein Lazarett, das seit einer Woche in Waggons auf die Abfahrt wartete, ausgeladen werden und in die Unterkunft zurückkehren musste. Der Zug, mit dem sie selbst eingetroffen war, schien als einer der letzten durchgekommen zu sein. Skrjabina, die gerade mit Hilfe eines ärztlichen Attests einem Evakuierungsbefehl entgangen war, hatte ein Vorgefühl, das sie erschauern ließ. »Der letzte Zug ist in der Nacht abgefahren … Leningrad ist umringt, und wir sind in einer Mausefalle gefangen. Was habe ich mit meiner Unschlüssigkeit bloß angerichtet?« 35 Der Leningrader Georgi Knjasew, der um Mitternacht an seinem Schreibtisch saß, hörte das ferne Hämmern von Geschützen:
Wieder habe ich die Lampe mit dem grünen Schirm angezündet … Aber was in ein paar Tagen geschehen wird, entzieht sich jeder Vorstellung … Aus den lückenhaften Zeitungsmeldungen entstehen vor uns wie Alpträume Analogien der Vernichtung und des Untergangs Dutzender, ja Hunderter Städte. Aber alle Analogien taugen nichts, wenn man sie auf einen solchen Koloß wie Leningrad bezieht. Soll ich wirklich Zeuge seines Untergangs werden?
Er hatte einige Silhouetten aus dem achtzehnten Jahrhundert – von Akademiemitgliedern, die mit ihren Perücken und in Kniehosen unter Eichen debattieren – von den Wänden genommen und machte sich Sorgen wegen der jahrtausendealten ausdruckslosen Sphinxe, die man noch nicht mit Sandsäcken geschützt hatte. »Sie sind einfach vergessen worden … Man hat zu viel zu tun, um sich um sie zu kümmern! Und sie stehen dort ganz allein, außerhalb der Ereignisse.«
Vor den Toren der Stadt tobte die Schlacht weiter. Von Mga aus schob sich die 20. Motorisierte Division der 16. Armee langsam nach Norden vor, gegen den Widerstand einer Schützenbrigade und erschöpfter NKWD-Grenzposten. Am 7. September wurde sie durch Gefährte der 12. Panzerdivision verstärkt und spaltete die sowjetische Verteidigung, indem sie die Grenzposten nach Westen in Richtung Newa und die Schützenbrigade nach Osten zum Ladogasee abdrängte. Nach schweren Kämpfen besetzte sie die Sinjawino-Höhen, einen bewaldeten Kamm, der über von Häftlingen betriebenen Torfwerken lag und zum Schauplatz wiederholter sowjetischer Ausbruchversuche und zu einem der blutigsten Schlachtfelder der ganzen Ostfront werden sollte. Am 8. September schließlich nahmen die Deutschen die Festungsstadt Schlüsselburg ein, die am Schnittpunkt der Newa mit dem Ladogasee lag und seit dem vierzehnten Jahrhundert den Flussweg nach Moskau beschützte. Mit ihr verlor Leningrad die letzte Landverbindung zur unbesetzten Sowjetunion. In den folgenden siebzehn Monaten würden Leningrader das »Festland« nur über den Ladogasee oder durch die Luft erreichen können. »Ein grauer Dunst«, schrieb Knjasew an seiner nebligen Uferstraße, »verhüllt die klaren Konturen der Isaakskathedrale, der Admiralität, des Winterpalais, des Senats und der Rosse über dem Bogen des Generalstabs. Irgendwo, ein paar Dutzend Kilometer vor der Stadt, stehen die Deutschen. Es ist nicht zu glauben, scheint ein Fiebertraum zu sein und nicht Wirklichkeit. Wie konnte das geschehen? Die Deutschen vor den Toren Leningrads.« 36
6
»Keine Sentimentalität«
Die Blockade hatte begonnen. Fehler waren gemacht worden, und die Tragödie sollte sich nun mit einer – vom heutigen Standpunkt aus – scheußlichen Unvermeidlichkeit entfalten. Damals jedoch schienen die Ereignisse noch in der Schwebe zu sein. Kaum jemand rechnete mit einer Belagerung: Entweder würden die Deutschen rasch zurückgeschlagen oder Leningrad würde fallen.
Überall an der Ostfront schien die Wehrmacht nun kurz vor dem Sieg zu stehen. Im Norden hatte Leebs Heeresgruppe Nord Leningrad umzingelt. Acht Wochen zuvor hatte die Heeresgruppe Mitte Smolensk erobert und war nun nur noch rund dreihundertzwanzig Kilometer von Moskau entfernt. Außerhalb Kiews schickte sich die Heeresgruppe Süd an, vier Sowjetarmeen einzukreisen, um kurz danach die Stadt selbst einzunehmen. Die Außenwelt hielt es für durchaus möglich, dass das Sowjetregime gestürzt oder zu einem demütigenden Frieden gezwungen werden würde. (»Alle ergehen sich in Voraussagen darüber«, schrieb George Orwell in London, »wie langweilig die Freien Russen sein werden … Man hat Visionen von Stalin in einem kleinen Laden in Putney, wo er Samoware verkauft und kaukasische Tänze
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