Blood - Ein Alex-Cross-Roman
Verbeugung bekam er sie alle rum.
Michael, seine Mutter und seine drei Brüder kannten seinen Vater jedoch noch von einer anderen Seite. Kevin Sullivan besaß mächtige Arme und die stärksten Hände, die man sich nur vorstellen kann, besonders aus der Sicht eines kleinen
Jungen. Einmal hatte er in der Küche eine Ratte gefangen und sie mit bloßen Händen zerquetscht. Zu seinen Söhnen hatte er gesagt, dass er dasselbe auch mit ihnen machen könne, ihre Knochen zu Sägemehl zermalmen, und es verging kaum eine Woche, ohne dass irgendwo am zarten, zerbrechlichen Körper ihrer Mutter ein frischer blauer Fleck auftauchte.
Aber das war noch nicht das Schlimmste, das war nicht das, was Sullivan in dieser Nacht wie in so vielen anderen im Verlauf seines Lebens aus dem Schlaf gerissen hatte. Der eigentliche Horror hatte angefangen, als er sechs Jahre alt war und sie eines Abends nach Ladenschluss das Geschäft geputzt hatten. Sein Vater rief ihn in das kleine Büro des Ladens, in dem ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und ein Klappbett standen. Kevin Sullivan saß auf dem Klappbett und befahl Michael, sich neben ihn zu setzen. »Hierher, mein Junge. Neben mich.«
»Es tut mir leid, Dad«, sagte Michael automatisch, weil er wusste, dass es um irgendeinen dämlichen Fehler gehen musste, den er bei der Arbeit begangen hatte. »Ich mach es wieder gut. Ich mach es richtig.«
»Setz dich einfach!«, sagte sein Vater. »Es gibt eine Menge, wofür du dich entschuldigen könntest, aber darum geht es nicht. Jetzt hör mir zu. Hör mir gut zu.«
Sein Vater legte dem Jungen die Hand auf das Knie. »Du weißt, wie schlimm ich dir wehtun kann, Michael«, sagte er. »Das weißt du doch, oder?«
»Ja, Sir, das weiß ich.«
»Und das werde ich auch tun«, fuhr sein Vater fort, »wenn du irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon sagst.«
Was denn sagen, wollte Michael fragen, aber er wusste, dass
er den Vater auf keinen Fall unterbrechen durfte, wenn er einmal angefangen hatte zu reden.
»Keiner Menschenseele.« Der Vater presste seinem Sohn den Oberschenkel zusammen, bis Michael die Tränen in den Augen standen.
Und dann beugte sein Vater sich vor und küsste den Jungen auf den Mund und machte noch andere Sachen, die ein Vater mit seinem Sohn niemals machen dürfte.
32
Sein Vater war jetzt schon lange tot, aber der hinterlistige Drecksack ließ sich niemals ganz aus Sullivans Gedanken vertreiben, und so hatte er ungewöhnliche Wege entwickelt, um den Dämonen seiner Kindheit zu entkommen.
Am nächsten Nachmittag, gegen vier Uhr, ging er zum Einkaufen in die Tysons Galeria in McLean, Virginia. Er suchte nach etwas ganz Besonderem: nach dem richtigen Mädchen. Er wollte ein Spiel spielen, das er »Rote Ampel, grüne Ampel« nannte.
Im Verlauf der nächsten halben Stunde sprach er ein paar potenzielle Mitspielerinnen an, erst vor der Filiale von Saks Fifth Avenue, dann vor Neiman Marcus, dann vor Lillie Rubin.
Sein Ansatz war geradeheraus und immer der Gleiche. Breites Lächeln, dann: »Hallo. Ich heiße Jeff Carter. Dürfte ich dir vielleicht ein paar Fragen stellen? Ja? Es dauert auch nicht lange, versprochen.«
Die fünfte oder sechste Frau, die er ansprach, besaß ein sehr hübsches, unschuldiges Gesicht − ein Madonnen-Gesicht? −, und sie hörte ihm zu. Vier der Frauen, die er vor ihr angesprochen hatte, hatten insgesamt recht freundlich reagiert, eine hatte sogar ein klein wenig mit ihm geflirtet, aber dann waren sie alle weitergegangen. Das war für ihn kein Problem. Er hatte kluge Menschen gern, und diese Frauen waren einfach bloß vorsichtig und wollten nicht gleich mit jedem spielen. Wie lautete der alte Spruch noch mal? Geh niemals mit einem Fremden mit, auch wenn er einen freundlichen Eindruck macht.
»Na ja, eigentlich sind es gar keine Fragen«, setzte er sein Verkaufsgespräch mit der Madonna der Galeria fort. »Lass es mich so sagen: Falls ich irgendetwas sage, was dir nicht passt, dann höre ich sofort auf und verschwinde. Das hört sich doch korrekt an, oder? Wie bei einer Ampel: rot oder grün.«
»Ein bisschen merkwürdig ist das schon«, sagte das dunkelhaarige Mädchen. Sie besaß ein wahrhaft anbetungswürdiges Gesicht und, soweit er das beurteilen konnte, einen hübschen Körper. Ihre Stimme klang ein kleines bisschen monoton… aber, na ja. Niemand ist vollkommen. Abgesehen von ihm selbst vielleicht.
»Es ist ganz harmlos«, fuhr er fort. »Deine Stiefel gefallen mir übrigens
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