Blood - Ein Alex-Cross-Roman
Wahl, Alex. Genau darum geht es mir. Du hättest nein sagen können. Du hättest sagen können, dass du mit den Kindern unterwegs bist. Was glaubst du wohl, was sie mit dir anstellen würden, Alex … dich feuern, weil du ein Privatleben hast? Weil du Vater bist? Und falls sie dich durch irgendeine glückliche Fügung des Schicksals doch rausschmeißen würden − umso besser.«
»Ich weiß nicht, was sie machen könnten , Nana. Über kurz oder lang würden sie mich wahrscheinlich schon rausschmeißen.«
»Wäre das wirklich so schlimm? Ach, vergiss es!« Sie stellte ihre Tasse mit lautem Knall auf den Tisch. »Ich gehe!«
»Nana, um Gottes willen, das ist doch lächerlich. Ich bin vollkommen erschöpft. Ich bin angeschossen worden. Na ja, fast angeschossen. Wir reden später darüber. Jetzt muss ich unbedingt erst mal schlafen.«
Ruckartig stand Nana auf und kam auf mich zu. Ihr Gesicht war wutverzerrt, ihre Augen kleine, schwarze Perlen. So hatte ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen, vielleicht nicht mehr seit meiner Jugend, als ich noch ein ziemlich wildes Bürschchen war.
»Lächerlich? Das nennst du lächerlich? Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?«
Nana versetzte mir mit den Handballen ein paar Stöße vor die Brust. Die Schläge taten nicht weh, aber was sie damit sagen
wollte, die Wahrheit in ihren Worten, die tat weh. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin einfach nur müde.«
»Dann schaff dir eine Haushälterin an, ein Kindermädchen, irgendwas, was du kriegen kannst. Du bist erschöpft? Ich bin erschöpft. Ich habe es bis obenhin satt und bin erschöpft, es hängt mir so was von zum Hals heraus, dass ich mir immer um dich Sorgen machen muss!«
»Nana, es tut mir leid. Was soll ich denn sonst noch sagen?«
»Nichts, Alex. Sag überhaupt nichts. Ich mag dir sowieso nicht mehr zuhören!«
Ohne ein weiteres Wort stapfte sie in ihr Zimmer. Na ja, immerhin ist es jetzt vorbei, dachte ich und setzte mich übermüdet und mittlerweile auch noch höllisch niedergeschlagen an den Küchentisch.
Aber es war nicht vorbei.
Minuten später stand Nana schon wieder in der Küche. Sie zog einen uralten Lederkoffer und eine kleinere Reisetasche auf Rädern hinter sich her. Sie marschierte an mir vorbei, durchquerte das Esszimmer und ging, ohne noch einmal piep zu sagen, zur Haustür hinaus.
»Nana!«, rief ich, rappelte mich auf und fing an, hinter ihr herzulaufen. »Halt. Bitte, bleib stehen und sprich mit mir. Lass uns miteinander reden.«
»Ich habe das Reden satt !«
Ich kam zur Tür und sah ein verbeultes und verschrammtes, blassbaues Taxi auf der Straße stehen, das keuchend Abgase und Rauchwolken ausstieß. Einer ihrer vielen Cousins, Abraham, war Taxifahrer. Von der Eingangsterrasse aus erkannte ich seinen Siebzigerjahre-Afro.
Nana bestieg das hässliche, blaue Taxi, und es tuckerte unverzüglich von dannen.
Dann hörte ich hinter mir ein zartes Stimmchen. »Wo geht Nana denn hin?«
Ich drehte mich um und nahm Ali, der sich hinter mir auf auf die Eingangsterrasse geschlichen hatte, auf den Arm. »Ich weiß nicht, kleiner Mann. Ich glaube, sie hat uns gerade eben verlassen.«
Er schaute mich entsetzt an. »Nana hat unsere Familie verlassen?«
31
Von einem heftigen Schauder geschüttelt schreckte Michael Sullivan auf und wusste sofort, dass er nicht wieder einschlafen könnte. Er hatte wieder einmal von seinem Vater geträumt, dem Angst einflößenden Drecksack, dem Schreckgespenst all seiner Albträume.
Als er noch ein kleiner Junge war, da hatte der Alte ihn in den Sommermonaten immer zwei-, dreimal pro Woche in seinen Schlachterladen mitgenommen. Als es angefangen hatte, war er sechs, und als es aufgehört hatte, war er elf. Der Laden befand sich im Erdgeschoss eines zweigeschossigen, roten Backsteingebäudes in der Quentin Road, Ecke East Thirty-sixth Street. Kevin Sullivan, Schlachter , war bekannt dafür, dass er das beste Fleisch im ganzen »Flatlands«, dem südöstlichen Teil von Brooklyn, hatte. Und das war noch nicht alles: Er konnte außerdem nicht nur den Geschmack der Iren, sondern auch den der Italiener und der Deutschen bedienen.
Tag für Tag bildete das Sägemehl eine dicke Schicht auf dem Fußboden, der jeden Abend saubergewischt wurde. Die Schaufensterscheiben waren blitzblank. Kevin Sullivan besaß ein Markenzeichen: Nachdem er einem Kunden das Fleisch zur Begutachtung präsentiert hatte, lächelte er und vollführte eine höfliche Verbeugung. Mit dieser kleinen
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