Blood - Ein Alex-Cross-Roman
konnte. Der enorme Lärmpegel ließ kaum einen klaren Gedanken oder konzentriertes Handeln zu.
»He, ihr Arschlöcher!«, hörte ich jemanden über uns rufen. Dann folgte eine Gewehrsalve. Lichtblitze zuckten durch die Dunkelheit.
Ned stöhnte und sackte auf der Treppe zusammen.
Zuerst konnte ich nicht erkennen, wo es ihn erwischt hatte, dann entdeckte ich eine Wunde nahe an seinem Schlüsselbein. Ich wusste nicht, ob er von einer Kugel oder einem herumfliegenden Splitter getroffen worden war. Aber es quoll viel Blut aus der Wunde.
Ich blieb bei ihm und rief über Funk Hilfe. Über uns waren
weitere Explosionen, Rufe, Männer- und Frauenstimmen zu hören. Chaos.
Neds Hände zitterten. Ich hatte noch nie zuvor gesehen, dass er vor irgendetwas Angst hatte. Das im Haus tobende Feuergefecht erhöhte den Schrecken und die Verwirrung noch zusätzlich. Sämtliche Farbe war aus Neds Gesicht gewichen, er sah nicht gut aus.
»Gleich holen sie dich hier raus«, sagte ich. »Nicht aufgeben, Ned. Hast du verstanden?«
»Zu dämlich«, sagte er schließlich und stöhnte. »Bin mittenrein gelatscht.«
»Spürst du schon was?«
»Könnte schlimmer sein. Könnte aber auch besser sein. Übrigens«, sagte er, »du hast auch was abgekriegt.«
29
»Ich werd’s überleben«, sagte ich zu Ned, während ich mich auf der Treppe schützend über ihn beugte.
»Ja, ja, ich auch. Wahrscheinlich wenigstens.«
Ein paar Minuten später zwängten sich die Sanitäter zu uns in den engen Flur. Als sie Ned nach draußen geschafft hatten, schien die Schießerei beendet zu sein. Genau, wie er immer sagte: Fünf Minuten Panik und Nervenkitzel .
Die ersten Berichte kamen herein. Captain Tim Moran teilte mir persönlich das Neueste mit. Die Erstürmung des Heroin-Labors schien gemischte Ergebnisse erbracht zu haben. Die meisten von uns hatten das Gefühl, dass wir zu früh gestürmt hatten, aber das war nicht unsere Entscheidung gewesen. Zwei Beamte der städtischen Polizei und zwei aus dem HRT waren verletzt. Ned war schon auf dem Weg in den Operationssaal.
Unter denjenigen, die im Haus gewesen waren, gab es sechs Todesopfer, darunter zwei SWAT-Beamte. Auch eine siebzehnjährige Mutter von zwei Kindern war unter den Toten. Aus irgendeinem Grund war sie nicht mit den anderen Arbeiterinnen nach draußen gekommen. Der Mann des Mädchens war ebenfalls tot. Er war sechzehn.
Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als ich endlich nach Hause kam. Ich war völlig erledigt, ausgelaugt, hundemüde, und dieses späte − oder frühe − Nachhausekommen hatte etwas Surreales.
Aber es kam noch schlimmer. Nana erwartete mich in der Küche.
30
Sie saß vor einer Tasse Tee und einem Stück Toast und wirkte schwach, aber ich ließ mich davon nicht täuschen.
Ihr Tee dampfte, genau wie sie. Sie hatte die Kinder noch nicht aufgeweckt. In den Lokalnachrichten auf ihrem kleinen Fernseher wurden gerade Bilder von dem Polizeieinsatz an der Ecke Kentucky und Fifteenth aus der Nacht gezeigt. Es kam mir sehr unwirklich vor, diese Bilder hier in unserer Küche zu sehen.
Nanas Blick blieb an dem Kratzer auf meiner Stirn hängen, an dem Verband , der sich dort befand.
»Ist bloß ein Kratzer«, sagte ich. »Nichts weiter. Alles in Ordnung. Mir geht’s gut.«
»Verschon mich bloß mit diesem lächerlichen Unsinn, Alex. Komm mir ja nicht auf diese herablassende Tour, als wäre ich irgendein dahergelaufenes Dummerchen. Diese Wunde da ist ein Schusskanal. Wäre die Kugel ein paar Zentimeter versetzt angekommen, dann hätte sie dein Gehirn zerfetzt und aus deinen drei Kindern Waisen gemacht. Keine Mutter mehr, kein Vater mehr. Liege ich da etwa falsch? Aber nein, natürlich nicht!
Ich habe die Schnauze so dermaßen voll, Alex. Seit über zehn Jahren lebe ich mit dieser furchtbaren Angst. Jetzt bin ich mit meiner Geduld am Ende. Es steht mir bis hier . Mir reicht’s. Schluss. Aus. Basta! Ich ziehe aus! Oh, ja, du hast ganz richtig gehört. Ich verlasse dich und die Kinder! Ich ziehe aus !«
Ich hob beschwichtigend die Hände über den Kopf. »Nana, ich war gerade mit den Kindern unterwegs, da kam ein Notruf.
Ich wusste nicht, dass sie mich anrufen würden. Woher auch? Ich konnte nicht das Geringste dagegen machen.«
»Du bist ans Telefon gegangen, Alex. Und dann bist du auch noch hingegangen. Das machst du immer. Für dich ist das Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung. Für mich ist es der totale Schwachsinn. Verrückt.«
»Ich hatte keine Wahl.«
»Du hast die
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