Blood - Ein Alex-Cross-Roman
Freundschaft.
Einen Augenblick später machte, zu Sampsons Überraschung, Nana Mama die Tür auf. Das alte Mädchen trug eine blaue Schürze mit Blumenmuster und wirkte noch winziger als sonst, wie eine Art antiker Vogel, dem Anbetung und Ehrerbietung entgegengebracht werden musste. Was hier in diesem Haus mit Sicherheit der Fall war.
»John, was gibt es denn? Was ist los? Ich habe ja fast Angst zu fragen. Na, komm rein, komm rein. Sonst bekommen die Nachbarn noch Angst.«
»Die haben doch schon Angst, Nana«, orgelte Sampson und deutete ein Lächeln an. »Wir sind hier in Southeast, schon vergessen?«
»Versuch bloß nicht, hier irgendwelche Witzchen zu machen, John. Wage es ja nicht. Warum bist du hier?«
Schlagartig fühlte Sampson sich wieder wie ein Teenager, wehrlos Nanas erbarmungslosem Blick ausgeliefert. Irgendetwas an dieser Szene kam ihm verdammt bekannt vor. Es war wie damals, irgendwann in der achten, neunten Klasse, als er und Alex beim Schallplattenklauen bei Grady’s erwischt worden waren. Oder als sie hinter der John Carroll Highschool Gras geraucht hatten und vom stellvertretenden Direktor ertappt worden waren und Nana sie dann abgeholt hatte.
»Ich muss mit Alex sprechen«, sagte Sampson. »Es ist wichtig, Nana. Wir müssen ihn aufwecken.«
»Und warum müssen wir das?«, wollte sie wissen und klopfte dabei mit dem Fuß auf den Boden. »Nachts um Viertel nach drei? Alex ist nicht mehr bei der Stadt Washington beschäftigt. Wieso könnt ihr ihn nicht einfach zufrieden lassen? Ausgerechnet du, John Sampson. Du müsstest es doch eigentlich besser wissen, als mitten in der Nacht hier vorbeizukommen und ihn um Hilfe zu bitten.«
Normalerweise hätte sich Sampson nicht auf einen Streit mit Nana eingelassen, aber in diesem Fall schon. »Ich fürchte, ich kann damit nicht warten, Nana. Und dieses Mal bin nicht ich es, der Alex’ Hilfe braucht. Er braucht meine.«
Dann schob Sampson sich an Nana vorbei und betrat das Haus der Familie Cross.
40
Es war beinahe vier Uhr morgens, Sampson und ich saßen in seinem Auto und fuhren zur Polizeiwache des Ersten Bezirks. Ich war hellwach und völlig aufgedreht. Mein gesamtes Nervensystem schien zu vibrieren.
Marias Mörder? Nach all den Jahren? Bestand denn überhaupt die Andeutung einer Chance, dass der Killer über zehn Jahre nach der Tat gefasst werden konnte? Das Ganze kam mir ausgesprochen unwirklich vor. Damals hatte ich den Fall ein Jahr lang von allen Seiten beleuchtet, und ich hatte die Jagd niemals ganz aufgegeben. Jetzt bestand plötzlich die Chance, den Killer ausfindig zu machen. War das möglich?
Wir erreichten die Wache in der Fourth Street und eilten hinein. Keiner von uns sagte ein Wort. Nachts haben Polizeistationen oft eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Notaufnahme im Krankenhaus: Man weiß nie, was auf einen zukommt. Dieses Mal hatte ich wirklich keinen Schimmer, aber ich wollte unbedingt so schnell wie möglich mit Giametti reden.
Als wir durch den Haupteingang kamen, herrschte eine ungewöhnliche Stille, aber das sollte sich schnell ändern. Sobald wir die Treppe zu den Arrestzellen hinuntergestiegen waren, wurde sowohl Sampson als auch mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein halbes Dutzend Kriminalbeamte und Uniformierte standen dort herum. Für die Uhrzeit sahen sie viel zu wach und viel zu nervös aus. Da war eindeutig etwas passiert.
Sampsons neuer Partner, Mario Handler, entdeckte uns und kam zu John geeilt. Handler ignorierte mich, und ich tat mein
Bestes, um ihn ebenfalls nicht zu beachten. Ich hatte schon ein paar Mal mit ihm geredet und hielt den Detective für einen blöden Angeber. Wie hielt John es bloß mit dem aus?
Vielleicht erkannte Sampson bei Handler ja Qualitäten, die mir verborgen geblieben waren. Oder er war mit der Zeit doch ein bisschen umgänglicher geworden.
»Du glaubst es nicht, so eine Scheiße. Ist wirklich nicht zu fassen«, sagte er zu Sampson. »Irgendjemand hat Giametti umgelegt. Kein Scheiß, Sampson. Er liegt tot in seiner Zelle, da drüben. Irgendjemand hat ihn da drin kaltgemacht.«
Ich fühlte mich am ganzen Körper wie betäubt, während Handler uns zu der letzten Zelle des Traktes führte. Ich konnte es einfach nicht glauben. Zuerst bekommen wir einen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Marias Killer, und dann wird der Mann, von dem dieser Hinweis stammt, ermordet? Hier in der Polizeiwache?
»Er hatte sogar eine Einzelzelle«, sagte Handler zu Sampson. »Wie haben sie das hier
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