Blood - Ein Alex-Cross-Roman
gegenübersah, ernsthaft mit irgendeiner dieser Fragen beschäftigt hätte.
Glücklicherweise hatten die Harris’ unterwegs eine ganze Anzahl von Fehlern begangen: Sie hatten ihm die Verfolgung zu leicht gemacht. Sie waren sorglos und leichtsinnig gewesen und außerdem, zumindest seiner voreingenommenen Meinung nach, für ein seit zwanzig Jahren verheiratetes Paar zu verliebt, selbst für einen Urlaub in Venedig.
Daher war der Schlachter mit gezogener Pistole die Treppe heraufgekommen und hatte in dem Augenblick geschossen, als er sie mit den Waffen in der Hand bemerkt hatte.
Ohne zu zögern, nicht einmal eine halbe Sekunde.
Als das chauvinistische Schwein, das er war, erledigte er den Mann zuerst. Von ihm ging seiner Einschätzung nach die größere Gefahr aus. Er schoss Martin Harris ins Gesicht, zerschmetterte ihm die Nase und die Oberlippe. Hundertprozentig tödlich. Der Kopf des Mannes knickte nach hinten, und sein blondes Toupet fiel herab.
Dann ließ Sullivan sich fallen, rollte sich nach links, und Marcia Harris’ Schuss verfehlte ihn um etwa dreißig Zentimeter.
Er schoss noch einmal und erwischte Marcia seitlich am Hals. Dann jagte er ihr eine zweite Kugel in die wogende Brust und eine dritte ins Herz.
Der Schlachter wusste, dass die Harris’ beide tot im Flur lagen, leblos wie Schweinehälften, aber er rannte jetzt nicht zum Ausgang.
Stattdessen zückte er sein Skalpell und machte sich an ihren Gesichtern und Hälsen zu schaffen. Wenn er genügend Zeit gehabt hätte, dann hätte er ihnen noch die Augen und die Münder zugenäht, um eine Botschaft zu hinterlassen. Dann machte er ein halbes Dutzend Fotos von seinen Opfern, den Möchtegernattentätern, für seine viel gerühmte Bildersammlung.
Eines nicht allzu fernen Tages würde der Schlachter diese Fotos demjenigen zeigen, der für seinen Tod bezahlt und der versagt hatte, und der jetzt selbst so gut wie tot war.
Dieser Mann war John Maggione jr., der Don persönlich.
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In seiner Rolle als Michael Sullivan hatte er sich angewöhnt, die Dinge mehrere Male zu durchdenken. So ging das nun schon sein ganzes Leben lang, und das galt nicht nur für seine beruflichen Aufträge, sondern auch für alles Mögliche in Bezug auf seine Familie, kleine Details wie zum Beispiel die Frage, wie und wo sie wohnten oder wer darüber Bescheid wusste. Auch wurde er ständig von Bildern aus dem Schlachterladen seines Vaters in Flatlands begleitet: eine Markise mit breiten Streifen in Orange, Weiß und Grün, den Farben der irischen Flagge. Das strahlende Weiß im Inneren des Ladens. Der laute, elektrische Fleischwolf, der jedes Mal, wenn er lief, das ganze Haus zum Erzittern zu bringen schien.
Für sein jetziges, neues Leben, weit weg von Brooklyn, hatte er sich für das wohlhabende und überwiegend weiße Montgomery County in Maryland entschieden.
Konkret war er auf die Stadt Potomac verfallen.
Gegen drei Uhr an dem Nachmittag, als er aus Europa zurückkehrte, fuhr er mit exakt vierzig Stundenkilometern durch Potomac Village und wartete wie jeder andere gute Bürger die nervtötend lange Ampelphase an der Kreuzung Ecke River und Falls Road ab.
Noch mehr Zeit zum Nachdenken, zum pedantischen Grübeln, was ihm normalerweise durchaus Spaß machte.
Also, wer hatte einen Killer auf ihn angesetzt? War es wirklich Maggione? Und was bedeutete das für ihn und seine Familie? Konnte er es überhaupt wagen, jetzt nach Hause zu gehen?
Eine der »äußeren Erscheinungsformen« oder »Tarnexistenzen«,
die er sich nach sorgfältiger Überlegung für seine Familie zurechtgelegt hatte, war die des großbürgerlichen Bohemien. Die Merkwürdigkeiten des damit verbundenen Lebensstils waren ihm Anlass zu immerwährendem Amüsement: fettarme Butter zum Beispiel, oder dass im Autoradio des modischen, luxuriösen Geländewagens seiner Frau permanent NPR lief, ein nicht kommerzieller Sender. Und natürlich das bizarre Essen − Oliven-Spitzgras-Muffins beispielsweise. Der Schlachter hielt diese niemals endenden Freuden des Yuppie-Lebens für vollkommen absurd und lächerlich.
Seine drei Jungen besuchten die private Landor School, wo sie sich unter die weitgehend wohl erzogenen, aber oft recht durchtriebenen Kinder der Mittelreichen mischten. In Montgomery County gab es viele reiche Ärzte, die beim National Institute of Health, bei der Verbraucherschutzbehörde FDA oder im Bethesda Naval Medical Center, dem Flaggschiff der US-amerikanischen Militärkrankenhäuser, beschäftigt
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