Blood - Ein Alex-Cross-Roman
»Mitternachtsanrufer« getauft hatten. Drei männliche Schwarze waren schon tot, und die Intervalle zwischen den Morden waren kürzer geworden. Eigentlich ein passender Fall für mich, wären da nicht die tausend Kilometer zwischen D.C. und Atlanta gewesen.
Ich legte die Akte beiseite.
Der nächste Fall spielte sich etwas dichter an meinem Zuhause ab. Zwei Geschichtsprofessoren der Universität von Maryland, die möglicherweise ein intimes Verhältnis miteinander gehabt hatten, waren tot in einem Seminarraum aufgefunden worden, an Deckenbalken hängend. Die örtliche Polizei hatte zwar einen Verdächtigen, wollte aber zuerst ein Täterprofil erstellen, bevor sie weitere Schritte einleitete.
Ich legte die Akte mit einem gelben Aufkleber versehen wieder auf meinen Schreibtisch.
Gelb hieß vielleicht .
Da klopfte es an meine Tür.
»Es ist offen«, rief ich und wurde sofort misstrauisch, paranoid, was ich die meiste Zeit über eben bin.
Wie hatte Nana gesagt, als ich vorhin aus dem Haus gegangen war? Sieh zu, dass du nicht erschossen wirst.
47
Alte Angewohnheiten sind hartnäckig. Aber es war nicht Kyle Craig oder irgendein Psychopath aus meiner Vergangenheit.
Es war meine erste Patientin. Sie füllte den Türrahmen, in dem sie nun stehen blieb, als hätte sie Angst hereinzukommen, fast vollständig aus. Sie hatte die Mundwinkel nach unten gezogen und hielt sich mit der Hand am Türgriff fest, während sie schnaufend versuchte, zu Atem zu kommen, sich einen Rest von Würde zu bewahren.
»Wollen Sie in nächster Zeit vielleicht einen Fahrstuhl einbauen lassen?«, stieß sie keuchend hervor.
»Es tut mir leid, wenn die Treppe Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hat«, sagte ich. »Sie müssen Kim Stafford sein. Ich bin Alex Cross. Bitte, treten Sie ein. Möchten Sie einen Kaffee, oder vielleicht lieber ein Glas Wasser?«
Mit schwerfälligen Schritten tapste meine erste Patientin schließlich in meine nagelneue Praxis. Sie war dick, schätzungsweise Ende zwanzig, hätte aber auch vierzig sein können. Sie war sehr konservativ gekleidet − dunkler Rock und weiße Bluse, die alt wirkte, aber von guter Qualität zu sein schien. Um den Hals hatte sie sorgfältig ein blau- und lavendelfarbenes Seidentuch gebunden.
»Sie haben mir auf Band gesprochen, dass Robert Hatfield Sie an mich verwiesen hat«, sagte ich. »Ich habe in meiner Zeit bei der Polizei mit Robert zusammengearbeitet. Ist er ein Bekannter von Ihnen?«
»Eigentlich nicht.«
Also gut, keine Bekannte von Hatfield . Ich wartete ab, ob sie noch mehr sagen wollte, aber es kam nichts. Sie stand einfach
nur mitten in der Praxis und begutachtete schweigend jeden einzelnen Einrichtungsgegenstand.
»Hier drüben können wir uns setzen«, sagte ich schließlich. Sie blieb so lange stehen, bis ich mich gesetzt hatte.
Schließlich ließ auch Kim sich nieder, indem sie vorsichtig auf der Vorderkante des Sessels balancierte. Eine Hand zupfte nervös an dem Knoten ihres Halstuchs herum. Die andere hatte sie zur Faust geballt.
»Ich möchte jemanden besser verstehen können, und dazu brauche ich ein bisschen Hilfe«, fing sie an. »Jemanden, der manchmal Wutanfälle bekommt.«
»Steht dieser Jemand Ihnen nahe?«
Sie wurde steif. »Ich verrate Ihnen aber nicht, wie er heißt.«
»Nein«, erwiderte ich. »Das ist auch überhaupt nicht wichtig. Aber geht es um ein Familienmitglied?«
»Verlobter.«
Ich nickte. »Wie lange sind Sie schon verlobt, wenn ich fragen darf?«
»Vier Jahre«, erwiderte sie. »Er will erst heiraten, wenn ich ein bisschen abgenommen habe.«
Vielleicht aus reiner Gewohnheit war ich bereits dabei, ein Profil dieses Verlobten zu erstellen. In der Beziehung der beiden trug sie an allem die Schuld. Er übernahm keinerlei Verantwortung für seine eigenen Handlungen. Ihr Übergewicht diente ihm als Hintertürchen.
»Kim, Sie haben gesagt, er bekommt manchmal Wutanfälle, könnten Sie das ein bisschen konkretisieren?«
»Na ja, es ist einfach…« Sie brach ab, ich war mir sicher, dass dies nicht aus mangelnder Erkenntnis, sondern aus Scham geschah. Dann erschienen in ihren Augenwinkeln die ersten Tränen.
»Ist er gewalttätig geworden?«, wollte ich wissen.
» Nein «, sagte sie, ein bisschen zu schnell. »Keine Gewalt. Es ist bloß … Na ja, ja. Ich schätze schon.«
Sie stieß schaudernd den Atem aus und schien keine Hoffnung mehr in Worte zu setzen. Stattdessen löste sie das Halstuch und ließ es in ihren Schoß gleiten.
Es bot
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