Blood Lily Chronicles 03 - Versuchung
einer Serie kleiner Erdbeben. Man sah weder Jugendliche noch Autos. Die Erde, so schien es, lag im Sterben. Die Menschen verstanden vielleicht nicht den Grund, aber sie wussten, dass ihre Welt krank daniederlag und der Tod seine Krallen schon nach ihr ausstreckte.
Rachel tauchte leise hinter uns auf. »Habt ihr einen Plan? Irgendeine Vorstellung, wo der fehlende Schlüssel sein könnte?«
Ich schüttelte den Kopf, frustriert, dass ich unsere Ratlosigkeit eingestehen musste.
Sie runzelte die Stirn, nahm mich am Arm und zog mich ein Stück zur Seite. Deacon bemerkte es gar nicht. Unbewegt starrte er aus dem Fenster. Sein innerer Kampf hatte wieder begonnen.
»Rachel, was willst du?«
Sie presste die Lippen aufeinander und legte die Stirn in Falten. Dann schaute sie sich um zu Rose, die mit dem Messer auf eine Dartscheibe warf und einen Volltreffer nach dem anderen landete. »Ach, nichts.« Sie wandte sich wieder weg.
Ich hielt sie zurück. »Moment mal! Du bleibst hier. Du hast mich doch extra von Deacon weggezogen. Es ist nicht nichts.« Wie schwer ihr die Entscheidung fiel, mir zu sagen, was sie im Sinn hatte, oder nicht, konnte ich von ihrem Gesicht ablesen.
»Es ist nur ... Es ist nur so, dass ich dich kenne.«
»Ich ... aha.« Keine Ahnung, was sie von mir erwartete oder ob sie überhaupt etwas erwartete. »Ah, ja, und weiter?«
Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und zerraufte sie derart, dass sich mir die Vermutung aufdrängte, sie müsse viel verstörter sein, als sie nach außen zeigen wollte. Dabei war Rachel sonst immer die Beherrschung in Person. »Ich meine nur, auch wenn wir uns noch nicht so lange kennen, habe ich irgendwie das Gefühl, dich wirklich zu kennen. Und das bilde ich mir nicht bloß ein. Ich bilde mir nicht ein, dass du in Wirklichkeit Alice bist oder dass ein Teil von ihr in dir weiterlebt. Ich kenne dich. Dein innerstes Wesen.«
»Das ist ja furchtbar nett von dir, und ich würde auch gern noch ein bisschen mit dir weiterplaudern, aber ich stehe zeitlich ziemlich unter Druck. Ich glaube, ich schaue mal nach, was sich bei Deacon tut. Wenn er nicht bald einen Rufer auftreibt, dann ...«
»Benutz den Schlüssel«, unterbrach sie mich. »Tu es. Benutz den Oris Clef.«
Mir fiel die Kinnlade herunter. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Mein voller Ernst.« Sie beugte sich vor und schaute mir in die Augen. »Verstehst du denn nicht? Ich habe es dir schon einmal gesagt: Schwarze Magie ist nur dann schwarz, wenn man sie entsprechend anwendet. Aber du bist gut. Wenn du die Sache durchziehst und den Thron einnimmst, hast du eine Gelegenheit, wie sie sich keinem Menschen je zuvor geboten hat: Du hast die Chance, Dunkelheit in Licht zu verkehren und alles Böse so lange hin und her zu wenden, bis nicht einmal du es wiedererkennst. Du kannst das Böse auslöschen, Lily. Kapierst du das nicht? Du hast die Chance, ein Vermächtnis zu schaffen. Und ich glaube wirklich, dass das deine Bestimmung ist. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb du hier bist.«
»Ich weiß nicht recht.« Allerdings ergab das, was sie sagte, durchaus einen gewissen Sinn. Immerhin bekämpfte ich die dämonische Essenz in mir jetzt schon eine ganze Weile, und das durchaus mit Erfolg. Mehr oder weniger jedenfalls.
Schlimmer konnte es auch nicht werden, wenn ich erst Königin war. Vielleicht würde ich mich dann sogar leichter tun. Welche Königin exekutiert die Bösewichte schon höchstpersönlich?
Ich wäre die freundliche Dämonenkönigin. Lily, die Große, die in die Geschichte eingehen würde als die Frau, die eine neue Ära begründet hatte. Die die Reiche der Finsternis und des Lichts vereinigt hatte.
Die Frau, die die Dämonen gezähmt hatte.
Um wie viel leichter fiele mir diese Lösung als die Alternative? Eine so grauenhafte Ewigkeit, dass ich sie mir letztlich gar nicht ausmalen konnte. Eine so schreckliche Aussicht, dass allein der Gedanke an die bloße Möglichkeit mir den Gestank des Todes in die Nase trieb, dass mir übel wurde und ich zu winseln anfing. »Ich weiß nicht recht.« Aber die Versuchung war groß. Teufel auch, schon als Deacon mir diesen Vorschlag unterbreitet hatte, war ich nicht gänzlich abgeneigt gewesen, was Rachel offensichtlich nicht entgangen war.
»Denk einfach darüber nach, ja? Denn ich kann mir dich nicht als Böse vorstellen.«
Ich mir schon. Ich hatte durch Gabriels Augen einen Blick in die Zukunft geworfen und klar und deutlich gesehen, wie ich die
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