Blood Lily Chronicles 03 - Versuchung
das größer und größer wurde. Ich konnte sie schon hören, die Dämonen, die auf den Augenblick lauerten, in dem sich das Portal öffnete.
Der Oris Clef um meinen Hals schien zu singen und versuchte, mich hineinzuziehen, mich zu ködern, mich in das Dunkel zu locken.
Ich dachte daran, was es mir bringen würde. An die Macht, die ich so erhalten würde.
Nein. Nicht an die Macht. Gutes. An das Gute, das ich dann vollbringen könnte. An die Kontrolle, die ich über die Dämonen erhalten würde, so wie ich sie vor unserer Flucht dazu gebracht hatte, sich vor mir zu verbeugen. Diese Macht hatte sich richtig angefühlt. Das könnte ich erreichen.
Könnte ich.
Und da der dritte Schlüssel nichts bewirkt hatte, blieb mir nun keine andere Wahl mehr.
Genauer gesagt: Eine Alternative gab es zwar, aber die jagte mir eine solche Angst ein, dass ich beim Gedanken daran am ganzen Leib zitterte, besonders seit das Portal sich immer weiter ausdehnte und ich hineinschauen konnte. Seit ich die sich drehenden und windenden Schatten der dämonischen Horden sah und die ersten Hitzewellen der Höllenfeuer spürte.
Vor allem aber, seit ich die Macht gefühlt hatte, die ich damit aufgeben würde.
Ich musste schlucken und mich auf meine Tapferkeit besinnen. Ich konnte es tun - ich war eine Führernatur. Ich hob die linke Hand hoch, dann den Dolch in der rechten. Meine Handfläche war schon blutverschmiert, aber in der Vision hatte ich mir die Handfläche aufgeschlitzt, unmittelbar bevor ich den Oris Clef umfasste. Und jetzt war nicht der rechte Augenblick, um von diesem Vorgehen abzuweichen.
Unter mir hörte ich Rose und Deacon, die sich verzweifelt der Dämonen erwehrten.
Ich holte tief Luft, dann schrie ich einen Befehl, wie vorher auf der Straße. »Hört auf!« Diesmal fehlte allerdings der dröhnende Grundton, und die Dämonen zeigten sich völlig unbeeindruckt.
Ich verstand den Grund - der Oris Clef hatte mir einen Vorgeschmack der Macht gewährt. Aber jetzt brauchte ich mehr, und dafür musste ich endgültig den Thron erklimmen.
Rose schrie gellend. Ich blickte hinunter. Ein Dämon hatte ihr seine Krallen in den Oberschenkel geschlagen. Sie blutete heftig. Das Fleisch war bis zum Knochen aufgerissen. Das Gesicht meiner Schwester war blass, ihr Atem flach, aber noch hielt sie stand und kämpfte weiter.
Ich umklammerte den Dolch. Ich musste es tun. Ein Moment. Ein Übergang, und Rose war gerettet.
Ich bewegte den Dolch auf die Handfläche zu - und hielt inne.
Mein Blut war über die Klinge verschmiert und hatte eine Inschrift hervorgebracht. Für meine Tochter. Mögest du den Mut finden, das Notwendige zu tun.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, Tränen traten mir in die Augen, Margaret hatte geglaubt, ihre leibliche Tochter Alice würde an diesem Abgrund stehen, aber die Worte schienen ausschließlich an mich gerichtet.
Jetzt erkannte ich endlich die Wahrheit - den Grund, warum ich den Dolch im Buch nicht hatte ausfindig machen können. Nicht weil er sich in einer anderen Dimension befunden hätte, sondern weil ich nach dem Schlüssel gesucht hatte. Und der Dolch war kein Schlüssel. Er konnte die Pforte nicht schließen. Er konnte die Apokalypse nicht verhindern.
Es war stattdessen ein Geschenk. Das Geschenk einer Mutter an ihre Tochter, von der sie annahm, sie würde die Erde retten.
Oh mein Gott.
Das Portal stieg immer schneller hoch und wurde immer größer. Innerlich zerrissen und angsterfüllt stand ich da. Die Stunde der Entscheidung war gekommen, und ich war wie gelähmt.
Lang hielt das jedoch nicht an, denn plötzlich verzog sich die Brücke.
Die Schreie der Menschen unten auf der Schnellstraße drangen an mein Ohr zusammen mit dem Ruf meiner Schwester. »Das Wasser, Lily, schau auf das Wasser!«
Das tat ich auch. Der Fluss blubberte und zischte, die Brücke erbebte und etwas Großes, Graues erhob sich an die Oberfläche.
Ein gewaltiger Ruck erschütterte meinen Pylon. Ich stürzte, packte eins der Drahtseile und versuchte, die Schockwellen heil zu überstehen. Zu meinem Entsetzen brach die Brücke in der Mitte entzwei, der Asphalt platzte auf, die Seile rissen. Autos und Menschen stürzten in die Fluten. Ihre Schreie wurden übertönt vom Kreischen des zerstörten Metalls und dem Donnern des einstürzenden Betons.
Auch Rose fiel in den Fluss. Mein Aufschrei steigerte sich noch, als ich sah, was sie gepackt hatte - ein hässliches Monster, das aus dem blubbernden, zischenden Wasser auftauchte, das
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