Blood Magic - Weiß wie Mondlicht, rot wie Blut - Gratton, T: Blood Magic - Weiß wie Mondlicht, rot wie Blut - Blood Magic # 1
Magie Opfer bringen musste. Und vor meinem Bruder wollte ich nicht lange fackeln.
Ich machte einen Schnitt.
Reese zischte durch die Zähne und starrte auf das Blut, das sich in meiner hohlen Hand sammelte.
Es war so schön, schimmerte so dunkel, als sickerte der Nachthimmel selbst aus meiner Hand. Ich drückte die Klinge gegen die Haut, damit das Blut schneller floss. Der Schmerz schnürte sich wie Stacheldraht über mein Handgelenk in meinen Unterarm.
»Beeil dich, Silla, wir müssen das verbinden.«
»Geht schon, Reese.« Ich holte tief Luft und verdrängte den Schmerz. Mir standen die Tränen in den Augen. Der späte Oktoberabend roch nach brennenden Blättern. Ich beugte mich über den Spatz und ließ Blut auf die vergilbten Knochen tropfen. Ich stellte mir vor, wie dem Skelett Muskeln, Sehnen, Fleisch und Federn wuchsen. Ich sah bildlich vor Augen, wie der Vogel plötzlich zum Leben erwachte und uns etwas vorzwitscherte. » Ago vita iterum «, flüsterte ich.
Ich mache dich wieder lebendig.
Ich beugte mich so weit vor, dass mein Mund die Knochen fast berührte. Dann hauchte ich die lateinischen Worte immer wieder über das Skelett. » Ago vita iterum , Ago vita iterum , Ago vita iterum. «
Mit jedem Satz fiel ein weiterer dicker Blutstropfen von meiner Hand.
Dann spürte ich das Einsetzen der Magie. Summend strömte sie durch meine Hand und meinen Arm hinauf wie ein Schwarm winziger Bienen. Mit einem Zischen zog ich die Hand über dem Skelett zurück.
»Silla.« Reese nahm meine unverletzte Hand und drückte sie. Seine Stimme klang rau.
Das Skelett zitterte. Die Flügel erschauerten und streckten sich aus, dehnten sich wie zum Flug. Aus den Knochen sprossen
langgliedrige, dünne Federn und ein Augapfel sprang in den Schädel. Ich konnte nicht wegsehen, nicht einmal als sich Muskelstränge um die Knochen legten und der Spatz das voller werdende Gefieder ausbreitete. Reese zerquetschte mir beinahe die Hand. Mir ging das Herz auf, ich hätte am liebsten gesungen – und vor Aufregung gelacht und geschrien.
» Ago vita iterum! «, rief ich dem Spatz zu. Die Kerzenflammen zuckten und erloschen, als das Vögelchen in die Luft sprang und hektisch mit den Flügeln schlug. Es zwitscherte ein Lied, ehe es im dunklen Himmel verschwand.
Wir waren allein auf dem Friedhof, umhüllt von Schatten.
»Oh Mann«, sagte Reese und ließ mich los. Er beugte sich vor und kratzte mit der Hand durch die Erde, auf der vorher die Knochen gelegen hatten. Auch die verstreuten Federn waren fort.
Ich erschauerte; auf einmal war mir schwindelig, meine Hände krampften. Der Mond ergoss sich über uns. Ohne die Flammen der Kerzen wurde mir kalt. Doch ich lachte. Leise und triumphierend.
»Oh mein Gott.« Reese zündete eine der Kerzen wieder an und suchte in der Plastiktüte nach einem Tuch. »Hier.«
Ich schüttelte nur den Kopf. Reese packte meine Hand und drückte das Stück Stoff dagegen. »Das muss vielleicht genäht werden«, sagte er.
Meine Handfläche kribbelte warm und der Schmerz taumelte am Rand der Magie.
Doch nur wenige Meter entfernt fiel der Vogel vom Himmel. Seine Knochen und Federn zerstoben, dürr wie welke Blätter.
10
3. Mai 1904
Oh, die Magie! Diese Erinnerung möchte ich behalten!
Ich kann es gar nicht ausdrücken. Man kann es nicht in Worte fassen, wie es sich anfühlt, wenn ich mein dunkles Blut an ein rotes Band streiche oder in die Linien einer in Holz geschnitzten Rune tropfen lasse. Der Schauer des Blutes, wenn die Magie in mir brennt. Wie sie kribbelt und kitzelt, wenn ich anderweitig beschäftigt bin, und mich anfleht, sie herauszulassen!
Natürlich tut es weh, mir ins lebendige Fleisch zu schneiden, um das Blut frei fließen zu lassen. Ich habe den widerwärtigen Augenblick vor jedem Stich mit meiner Nadel oder jedem glatten Schnitt von Philips Messer noch nicht bezwungen. Stets halte ich den Atem an und spüre, wie die Welt mit mir die Luft anhält, während ich auf die Welle des Schmerzes warte, in der sich die Kraft entfaltet. Das Opfer, so Philip, ist der Schlüssel. Wir geben etwas, um etwas anderes zu erschaffen.
Oh, ich fühle mich wie im Himmel. Philip ist der Engel der Verkündigung – oder ich bin Morgane und er der Zauberer, der mich lehrt, die Welt zu beherrschen. Im Schein der Kerzen rühren wir Zaubertränke und kochen sie in einem Kessel aus Eisen wie die Hexen der Vorzeit. Im Rauch werden meine Wangen rosa, und in der Hoffnung, er möge es merken, lächele ich ihn oft
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