Blood Shot
Und außerdem, Connie, und das ist das Entscheidende: Meine Eltern haben mich geliebt. Sie glaubten, ich würde alles schaffen, wenn ich nur wollte. Und auch wenn ich hundertmal in der Woche explodiert bin, mußte ich mir doch nicht ständig anhören, daß ich verglichen mit meiner kleinen Schwester nur ein Dreck bin. Entspann dich, Connie. Sei nett zu dir.«
Sie sah mich voller Zweifel an. »Ist das dein Ernst? Nach allem, was ich gesagt habe?«
Ich packte sie an den Schultern und zwang sie, mir in die Augen zu blicken. »Es ist mein Ernst, Connie. Wie wär's jetzt mit einer Tasse Kaffee?«
Danach sprachen wir über Mike und seinen Job bei der Müllbeseitigungsfirma und über Mike junior und seine Fußballbegeisterung und ihre drei Töchter und ihren Jüngsten, der jetzt acht und so helle war, daß sie wirklich daran dachte, ihn aufs College zu schicken, obwohl Mike unsicher war, weil er glaubte, daß den Leuten dort Flausen in den Kopf gesetzt würden und sich die Kinder dann für besser hielten als ihre Eltern und ihre Nachbarn. Die letzte Bemerkung brachte mich innerlich zum Grinsen - ich konnte mir vorstellen, wie Ed Djiak Connie warnte: Du willst doch nicht, daß das Kind so wird wie Victoria, oder? Eine Dreiviertelstunde hörte ich ihr geduldig zu, bevor ich meinen Stuhl zurückschob und aufstand.
»Hat mich wirklich gefreut, dich mal wiederzusehen, Vic. Ich - ich bin froh, daß du vorbeigekommen bist«, sagte sie an der Tür.
»Danke, Connie. Nimm's nicht so schwer. Und grüß Mike von mir.«
Langsam ging ich zu meinem Auto; meine rechte Ferse rieb am Schuh. Ich genoß den leichten Schmerz. Die Götter lassen einen für den Schaden büßen, den man angerichtet hat. Wo hatte ich etwas über das Leben gelernt? Ein bißchen was im Umkleideraum, ein bißchen was von Gabriella, ein bißchen was von unserer Basketballtrainerin, einer außerhalb des Spielfelds ruhigen, vernünftigen Frau. Wie hatte Connie die Schule geschafft ohne eine Freundin, bei der sie sich ab und zu ausweinen konnte? Ich stellte sie mir als Vierzehnjährige vor, groß, tolpatschig, ängstlich. Vielleicht hatte sie nie Freundinnen gehabt.
Es war erst zwei Uhr. Ich fühlte mich, als ob ich den ganzen Tag schwere Lasten geschleppt und nicht lediglich mit den alten Nachbarn Kaffee getrunken hätte. Ich fühlte mich, als ob ich bereits tausend Dollar verdient hätte, und wußte nicht einmal, wo ich anfangen sollte zu suchen. Ich legte den Gang ein und fuhr los in Richtung Festland. Meine Socken waren noch immer feucht und verbreiteten im Auto einen Geruch nach Bier und Schweiß, aber als ich ein Fenster runterkurbelte, ließ die kalte Luft meine nackten Zehen sofort steif werden. Meine Gereiztheit wuchs. Am liebsten hätte ich an der nächsten Tankstelle angehalten und Caroline angerufen, um ihr zu sagen, daß die Sache geplatzt sei. Was immer ihre Mutter vor einem Vierteljahrhundert getan hatte -es sollte in Frieden begraben bleiben. Leider mußte ich feststellen, daß ich in die Houston Street fuhr anstatt nach Norden. Richtung Lake Shore Drive und Freiheit.
Bei Tag sah die Gegend schlimmer aus als nachts. Autos parkten auf den Gehsteigen, ein ausgebrannter Wagen stand verlassen auf der Straße. Ich stellte meinen Chevy vor einem Hydranten ab; wenn Polizeistreifen hier so häufig verkehrten wie die Straßenreinigung, konnte ich bis zum nächsten Frühjahr stehen bleiben, ohne einen Strafzettel zu bekommen.
Ich ging zur Rückseite des Hauses, wo Louisa immer einen Schlüssel auf dem Sims über der kleinen Veranda liegen gelassen hatte. Er war noch da. Als ich eintrat, sah ich, daß sich im Nachbarhaus ein Vorhang bewegte. Innerhalb von Minuten würde die ganze Nachbarschaft wissen, daß eine fremde Frau bei den Djiaks war.
Ich hörte Stimmen im Haus und rief laut hallo. In Louisas Schlafzimmer war der Fernseher voll aufgedreht. Ich klopfte so fest ich konnte. Der Fernseher wurde leiser gestellt, und eine heisere Stimme rief: »Bist du das, Connie?«
Louisas Gesicht hellte sich auf, als sie mich sah. »Hallo, Kind. Komm rein. Mach's dir bequem. Wie geht's?«
Ich zog einen Stuhl neben das Bett. »Ich komm' gerade von Connie, und vorher war ich bei deinen Eltern.«
»Wirklich?« fragte sie matt. »Ma hat nie zu deinen Fans gehört. Was hast du vor, Warshawski?«
»Ich will Freude und Wahrheit verbreiten. Warum hat deine Mutter Gabriella so gehaßt, Louisa?«
Sie zuckte die knochigen Schultern. »Gabriella hatte nichts übrig für
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