Blood Shot
Warum sie mir nicht die Tür vor der Nase zuknallte, verstand ich nicht. Und warum sie ging, um meine Nachricht zu überbringen, war mir ein weiteres Rätsel. Sie erinnerte mich an ein paar ältliche Cousins meines geliebten Exmannes Dick, zwei Brüder und eine Schwester, die zusammenlebten. Vor dreizehn Jahren hatten sich die Brüder gestritten und weigerten sich seitdem, miteinander zu reden. Sie baten die Schwester darum, ihnen das Salz, die Marmelade oder den Tee zu reichen, und sie leistete pflichtbewußt ihren Bitten Folge.
Wie auch immer, Dr. Chigwell kam persönlich zur Tür und vertraute seiner Schwester die Marmelade nicht an. Mit dem dünnen Hals, der ruckweise nach vorn stieß, sah er aus wie ein gerupfter Truthahn.
»Hören Sie, junge Frau. Mit Drohungen erreichen Sie nichts bei mir. Wenn Sie nicht innerhalb von dreißig Sekunden verschwunden sind, rufe ich die Polizei, und dann können Sie denen erklären, was Sie mit Ihrer Verfolgungskampagne bezwecken.«
Das saß. Ich sah mich vor mir, wie ich verzweifelt versuchte, einem Vorortbullen - oder womöglich Bobby Mallory - zu erklären, daß mich einer der zehn reichsten Männer Chicagos angelogen hatte und sein alter Werksarzt mit ihm unter einer Decke steckte. Resigniert ließ ich den Kopf sinken. »Betrachten Sie mich als bereits gegangen. Der Journalist, der Sie morgen früh anrufen wird, heißt Murray Ryerson. Ich werde ihm Ihre früheren medizinischen Fälle erklären und so weiter.«
»Raus hier!« Seine Stimme war zu einem Zischen geworden, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich ging.
17
Trauerfeier
Nancys Beerdigung war auf Montagmorgen elf Uhr in der Methodistenkirche festgesetzt, in die sie als Kind immer gegangen war. Für mein Empfinden verbringe ich zuviel Zeit auf Beerdigungen von Freunden -ich habe ein marineblaues Kostüm, das ich bei diesen Gelegenheiten stets trage, und ich bringe es nicht mehr über mich, es auch zu anderen Anlässen anzuziehen. Ich trödelte in Strumpfhosen und Bluse herum. In dem Moment, da ich das Kostüm anzog, würde Nancys Tod endgültig sein. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, nicht auf Chigwell oder Humboldt, nicht auf einen Plan, wie ich die Polizei auf die Spur von Nancys Mörder bringen konnte, nicht einmal darauf, die im Wohnzimmer verstreuten Zeitungen aufzuräumen. Damit hatte ich früher am Morgen angefangen. Aber ich war zu nervös, um die Sache zu Ende zu bringen.
Um zehn vor zehn suchte ich Humboldts Firmennummer im Telefonbuch und rief an. Von einer gleichgültigen Stimme wurde ich mit Humboldts Büro verbunden, wo sich nicht Clarissa Hollingsworth, sondern ihre Assistentin meldete. Als ich nach Mr. Humboldt fragte, hatte ich schließlich nach einigem Hin und Her Miss Hollingsworth an der Strippe.
Die eiskalte Altstimme grüßte mich von oben herab. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit Mr. Humboldt zu sprechen, Miss Warshawski. Aber ich werde mich darum kümmern, daß er Ihre Nachricht erhält. Er kommt nicht mehr jeden Tag ins Büro.«
»Ja, und vermutlich belästigen Sie ihn auch nicht zu Hause. Falls doch, könnten Sie ihm auch noch sagen, daß ich gestern Abend mit Dr. Chigwell gesprochen habe.«
Sie beendete das Gespräch mit solcher Rasanz, daß mir die Luft wegblieb. Vor Wut zitternd zog ich mich fertig an und fuhr mal wieder in Richtung Süden.
Die Kirche war um die Jahrhundertwende erbaut worden, die dunklen Bänke mit den hohen Lehnen und die riesigen Rosettenfenster riefen eine Zeit wach, in der hier Frauen in langen Kleidern und Kinder in Schnürstiefeln gekniet hatten. Jetzt konnte es sich die Gemeinde nicht mehr leisten, die farbigen Glasfenster sachgerecht reparieren zu lassen, die Jesus auf dem Kalvarienberg darstellten. Jesus' grübelndes, asketisches Gesicht war zerbrochen und durch farbloses Drahtglas ersetzt worden, so daß er aussah, als litte er an einer entstellenden Hautkrankheit.
Nancys vier Brüder bildeten das Empfangskomitee, die Kinder saßen in den ersten Reihen und stießen und rempelten einander an, ungeachtet der Nähe des Sarges ihrer Tante. Ihre Stimmen waren durch das ganze Kirchenschiff zu hören, bis sie von einer melancholischen Weise, die jemand auf der Orgel spielte, übertönt wurden.
Ich ging nach vorne, um Mrs. Cleghorn zu begrüßen. Sie lächelte mich zaghaft, aber herzlich an. »Komm nach dem Gottesdienst mit zu uns«, flüsterte sie. »Wir können Kaffee trinken und miteinander sprechen.«
Sie lud mich ein, neben ihr
Weitere Kostenlose Bücher