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Bloody Mary.

Bloody Mary.

Titel: Bloody Mary. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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Vortritt durch ein schmales Schwingtor zu lassen. Der Dekan ging hindurch und blieb stehen. Noch nie zuvor hatte er sich mit einer so direkten Frage zur Gesellschaftsstruktur auseinandersetzen müssen. Für seinen Verstand, der genauso auf Respekt und Achtung gedrillt war wie der von Skullion, waren »sie« die anonyme und allmächtige, im Herzen Britanniens angesiedelte Elite, ein diffuses Amalgam der um ein Klischee zu benutzen – Großen und Guten, die Londons City und Whitehall kontrollierten und sich im Athenaeum, dem Carlton und den besseren Clubs oder im House of Lords trafen, geeint in ihrer Treue zur Krone. Sich fragen zu lassen, wer »sie« seien, bedeutete gleichzeitig, die schiere Existenz der Autorität an sich in Frage zu stellen und unumstößliche Prinzipien ins Wanken zu bringen. »Das kann ich nicht beantworten«, sagte er fest und schaute über die Wiesen hinweg auf einen gestutzten Weidenbaum am Flußufer.
    Der Praelector ging durch das Tor und trat beiseite, um einen joggenden Studenten vorbeizulassen. »Die da oben«, sagte er dann, »sind nicht mehr auf unserer Seite. An ihre Stelle sind gewinnsüchtige Kreaturen ohne jegliches soziales Interesse getreten. Unser Niedergang fällt in eins mit meiner Lebenszeit. Eine triste, entmutigende Epoche, die uns noch dazu auf Gedeih und Verderb dem Markt ausliefert. Zwei Kriege haben wir geführt und einen wertlosen Sieg errungen, auf Kosten von Millionen Toten und unserer gesamten Unabhängigkeit. So erging es auch Sparta und Athen, und Griechenlands Größe war dahin. So wie die Griechen haben wir nichts zu verkaufen außer uns selbst.«
    »Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte der Dekan. »Wie können wir uns verkaufen? Einem Käufer hätte ich nichts anzubieten. Ich bin ein alter Mann, und alles, was mir etwas bedeutet, befindet sich im College.«
    »Das war eher allgemein gesprochen. Wir persönlich sind ja wohl alle durch Pensionen und kleine private Rücklagen versorgt. Ich dachte da an das College. Es ist unser kollektiver Besitz.«
    »Aber das kommt gar nicht in Frage«, sagte der Dekan. »Das College steht nicht zum Verkauf. Wir sind nicht irgendeine handelsfähige Ware.«
    Der Praelector stach mit seinem Spazierstock in einen Maulwurfshügel. »Da wäre ich mir gar nicht so sicher. Es muß schon ein mutiger Mann sein, der im aktuellen Meinungsklima vorherzusagen wagte, was eine möglicherweise zum Verkauf stehende Ware ist. Wer hätte noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten, daß Wasser an Privatfirmen, noch dazu einige ausländische, verkauft werden würde, und daß jede englische Familie für ein lebensnotwendiges Gut bezahlen und dafür herhalten müßte, daß Aktionäre Profit machen? Und Wasser ist auch ein Monopol. Wir haben nicht die freie Auswahl, welche Leitung wir benutzen wollen. Und wenn Wasser, warum nicht auch Luft?«
    »Das ist doch absurd«, warf der Dekan ein. »Jeder kann Luft atmen. Sie ist überall. Dafür braucht man weder Rohre noch Stauseen, weder Pumpstationen noch Filtrierwerke wie beim Wasser.«
    »Sind Sie da ganz sicher? Ich nicht«, sagte der Praelector. »Ständig ist von Luftverschmutzung die Rede. Verursacht durch Autoabgase, Fabrikemissionen und sogar die Kessel von Zentralheizungsanlagen. Man könnte absolut schlüssig begründen, warum Luft gereinigt und für den menschlichen Verbrauch aufbereitet werden müßte. Die Menschen, die nur ans Geld denken, könnten diese Argumentation übernehmen. ›Saubere Luft‹, würden sie sagen, und was man säubern muß, kostet Geld und muß bezahlt werden. Und wo Geld bezahlt werden muß, läßt sich folgerichtig auch Profit erzielen. Damit die Kräfte des Marktes wirken können, muß es materielle Anreize geben. Dieses Prinzip wenden die ›die da oben‹, unsere Herren, an. Ein anderes ist für sie nicht bindend.« »Es ist ein widerwärtiges Prinzip«, sagte der Dekan erregt. »Mir leuchtet nicht ein, wie man es so allumfassend anwenden will. Einige Dinge lassen sich nicht in Geldkategorien erfassen.« »Nennen Sie mir eins«, sagte der Praelector. Der Dekan blieb stehen und überlegte, was sich nicht mit einem Preisschild versehen ließ. »Ein Menschenleben«, antwortete er dann. »Berechnen Sie doch ein Menschenleben nach finanziellen Maßstäben, wenn Sie können. Es ist unmöglich.«
    »Da irren Sie sich«, entgegnete der Praelector und wies mit seinem Stock auf ein Betonhochhaus am Horizont. »Das Krankenhaus von Addenbrooke, das neue da drüben. Gehen Sie

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