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Bloody Mary.

Bloody Mary.

Titel: Bloody Mary. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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beiseite gefegt worden waren. Pflichtgefühl, Respekt, Ehre und Gerechtigkeit galten nichts mehr. Oder sie befanden sich im Widerstreit miteinander. »Ich habe die Pflicht, die Polizei zu informieren«, sagte er sich im stillen, um von einer anderen inneren Stimme beschimpft zu werden, er solle diese Dummheit gefälligst unterlassen. »Denn daß Skullion dir gesagt hat, er habe Sir Godber getötet, ist noch lange kein Beweis. Er muß es nur leugnen, und wie stehst du dann da?« Diese Frage konnte der Dekan nicht beantworten. Andererseits galt es auch, die Ehre des Colleges zu bedenken. Selbst eine unbewiesene Beschuldigung würde zu einem Skandal führen, und Porterhouse hatte in den letzten Jahren zu viele Skandale erlebt, um einen weiteren zu überstehen. Eine neue Krise würde nur denen einen Vorwand liefern, die den gesamten Charakter des Colleges ändern wollten, und dann würden der Dekan und der Obertutor von forschen jungen Fellows wie Dr. Buscott und seinesgleichen ausgebootet werden. Der Premierminister würde einen neuen Rektor ernennen, und Porterhouse würde zu einem weiteren akademischen Durchlauferhitzer wie Selwyn oder Fitzwilliam degenerieren. Der Dekan hing sein Pflichtgefühl an den Nagel und seinen Glauben an die Gerechtigkeit gleich dazu. Aber das waren nicht die einzigen Konsequenzen. Sein Leben lang hatte der Dekan Skullion als Bediensteten betrachtet, als einen gesellschaftlich tieferstehenden Menschen, dessen Respekt lebender Beweis dafür war, daß sich die alte Ordnung nicht grundlegend geändert hatte. Nun hatte Skullion diese beruhigende Illusion zerstört. »Nennen Sie mich nie wieder Skullion«, hatte er gesagt. »Von jetzt an heißt es Rektor.« Dieser Befehl, und das war der einzige passende Begriff, hatte die Welt des Dekans auf den Kopf gestellt. So kurz nach seiner Begegnung mit dem betrunkenen Jeremy Pimpole, der völlig verwahrlost im Wildhüterhäuschen wohnte, hatte Skullions Pochen auf seine Autorität dem gesellschaftlichen Traum des Dekans den Garaus gemacht. Zweifellos blieben noch kleine Inseln der alten Ordnung, wo man den gebührenden Respekt zollte, aber die Flut gleichmacherischer Vulgarität stieg und würde sie bald alle überschwemmen. Diese gelebte Barbarei hatte der Dekan auf den Autobahnraststätten erlebt und war schockiert gewesen. Er fand es unerträglich, ihr auch in Porterhouse zu begegnen. Auch trug das Wissen, daß er in Sachen Sir Godbers Tod unrecht und Lady Mary recht gehabt hatte, zu seiner Desillusionierung bei. Ihr Mann war ermordet worden. Und nicht genug mit dieser gräßlichen Erkenntnis, der Dekan hatte auch noch die letzten Worte des Sterbenden mißverstanden und so interpretiert, daß er seinen eigenen Mörder zum Rektor von Porterhouse gemacht hatte. In diesem Irrtum lag zwar eine perfide Ironie, doch der Dekan war jetzt nicht in der Stimmung, sie zu würdigen. Vielmehr zog er sich in seine Wohnung zurück, hing den finstersten Gedanken nach, nahm stumm seine Mahlzeiten im Speisesaal ein und unternahm lange melancholische Spaziergänge nach Grantchester, wobei er mit sich zu Rate ging, was um alles in der Welt zu tun sei. Auf einem dieser Spaziergänge traf er den Praelector. Auch er wirkte gedankenverloren. »Ah, Dekan, wie ich sehe, haben Sie sich inzwischen angewöhnt, regelmäßig den Gang nach Grantchester anzutreten.«
    Der Dekan rang sich ein Lächeln ab. »Ich mache meinen Verdauungsspaziergang«, erwiderte er. »Ich habe gemerkt, daß
    ein wenig Bewegung gut gegen mein Rheuma ist.«
    »Das auch«, bestätigte der Praelector. »Aber ich für mein Teil unternehme diese Wanderung, um meine Gedanken zur Lage des Colleges zu ordnen. Sie ist nicht gut.« »In welcher Hinsicht?« erkundigte sich der Dekan vorsichtig. »Genau weiß ich das nicht. Während des Schatzmeisters Abwesenheit habe ich die Konten und unsere Ausgaben überprüft und muß gestehen, daß sie so katastrophal sind, wie der arme Mann immer behauptet hat. Selbst für mein ungeübtes Auge sieht die Situation hoffnungslos aus. Ich fürchte, wir stehen kurz vor dem Bankrott.«
    »Bankrott? Aber ein College kann nicht bankrott gehen. So etwas gibt es einfach nicht. Wir sind nicht irgendeine Firma oder ein Privatmann. Porterhouse ist eine Institution, eine der ältesten in Cambridge. Sie werden nicht zulassen, daß wir Bankrott machen.«
    »Sie, Dekan, sie? Darf ich fragen, wer diese allgegenwärtigen ›sie‹ sein könnten?« Der Praelector hielt inne, um dem Dekan den

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