Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
dabei und eine Liste mit Kontaktpersonen, an die ich mich wenden sollte, um meine Reise zu organisieren.
Bei der Anfahrt mit Rolli will ja einiges bedacht sein – Stichwort: Mobilitätsservice. Leider, leider steht der aber in Darmstadt ja erst ab 6.00 Uhr zur Verfügung und unser Zug fuhr bereits um 5.42 Uhr ab. Also mussten wir den Einstieg selbst organisieren und deshalb noch früher am Morgen aufbrechen. Es lief dann aber alles ganz entspannt, wir waren gut in der Zeit. Weil es dem Schaffner so peinlich war, dass uns der Mobilitätsservice nicht zur Verfügung stand, hat er uns auf der Reise sehr verwöhnt, mit Extra-Frühstück am Platz und allem Drum und Dran. So vergingen die 3-4 Stunden Fahrt wie im Flug. In Berlin angekommen, ging’s dann im Taxi gleich weiter ins Hotel. Es war der Tag vor dem Neujahrsempfang. Am Nachmittag wurden wir zu einer Vorbesprechung mit einem gepanzerten Wagen abgeholt und ins Schloss Bellevue gefahren. Das war ein Extra-Service für uns, denn wir durften mit dem dicken
Schlitten vorneweg direkt ins Schloss fahren, während die anderen Gäste erst einmal in zwei Reisebusse einsteigen mussten und dann etwas umständlicher ins Schloss gebracht wurden. In dem Fall war meine Behinderung sogar ein Vorteil!
Wir versammelten uns alle in einem großen Saal. Hier erfuhr ich, wie der Bundespräsident die Menschen für diesen Empfang auswählt: Mitte des Jahres erhält er aus jedem Bundesland je 20 Vorschläge und entscheidet dann, wen er einlädt. Die anderen Gäste waren wegen ganz unterschiedlicher Leistungen eingeladen. Eine sehr junge Dame, bestimmt noch keine 20 Jahre alt, hatte sich in ihrem Heimatort in Sachsen gegen Rechtsextreme eingesetzt. Andere waren aktiv bei der Integration von Ausländern in Deutschland. Wieder andere hatten Hospizarbeit geleistet, sich für die Erhaltung alter Handwerksberufe eingesetzt oder in Schulen Kindern von der deutschen Geschichte und ihren Erlebnissen im Krieg berichtet. Bei mir hieß es, dass ich stets Ansprechpartner sei für alle Menschen, wenn es um das Thema Integration von Menschen mit Behinderung gehe, dass ich mich mit diesem Ziel für verschiedenste Projekte einsetzte und in der Öffentlichkeit von meinem Leben berichtete, um anderen Menschen in ähnlicher Lage Mut zu machen. Als man mich auf diese Weise vorstellte, bekam ich schließlich das Gefühl, tatsächlich in diese Runde zu passen. Und ich war dankbar und glücklich darüber, dass man mir so unverhofft ein von der Öffentlichkeit wahrnehmbares Forum bot, um meine Sache an den Mann zu bringen.
Als es dann am nächsten Tag endlich soweit war, wartete ich bis zur letzten Minute, um mich in Smoking und Fliege zu kleiden – vor Aufregung war ich ganz schön erhitzt. Ein Chauffeur holte uns ab, der Annika ganz stilecht die Autotür aufhielt. Um 8.30 Uhr fuhren wir los. Alle umliegenden Straßen waren von der Polizei abgeriegelt und auf dem Platz
wimmelte es von Beamten. Nach einer herzlichen Begrüßung wurden wir in die Galerie gebeten, in der wir dann noch über eine Stunde warteten, bis das Defilee endlich begann. Irgendwann hieß es dann: »Herr Sitzmann und Begleitung, wir bitten Sie, uns zu folgen.« Wir wurden auf Extrawegen weiter eskortiert, um die Treppen zu umgehen. Backstage-Tour Schloss Bellevue. Wir durften uns auf einer Leder-Garnitur niederlassen und konnten das ganze Treiben noch ein wenig beobachten. Irgendwann wurden die Bürgerinnen und Bürger in alphabetischer Reihenfolge aufgestellt. Alle in der Schlange wirkten aufgeregt. Ich versuchte vergeblich, meine schwitzigen Hände trocken zu wedeln, als plötzlich von links Blitzlichtgewitter losging und einer nach dem anderen aus der Reihe dem Bundespräsidenten die Hände schüttelte – 20 bis 30 blitzschnell vergehende Sekunden für jeden, so sah es das Protokoll vor. Doch mir kam die Zeit unseres Gesprächs viel länger vor: Wir begrüßten den Bundespräsidenten und seine Gattin und sprachen gefühlt minutenlang über Gott und die Welt. Nach dem Empfang wurden wir zum Mittagessen an die Tische geleitet. Hier ereilte uns gleich die nächste Überraschung: Auf dem Platz neben dem Bundespräsidenten stand kein Stuhl – ich sollte also neben ihm sitzen! Es gestaltete sich als eines der spannendsten Erlebnisse meiner Rolli-Karriere und wird mir wohl noch lange im Gedächtnis bleiben.
Der Politrummel in der Hauptstadt war spannend, hat mir aber auch gezeigt, dass Politiker ebenso »nur« Menschen sind. Politik ist
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