Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Menschen mit Handicaps ist dieses sich zeigen nötig, damit sich der Gedanke der Inklusion fest in der Gesellschaft verankert, auch wenn es häufig eine Schwelle darstellt und die Überwindung nur mit starkem Willen gelingt.
In meinem Leben bedeutet soziales und gesellschaftliches Engagement, dass ich mich ganz bewusst in der Öffentlichkeit zeige. Das machen viel zu wenige Menschen, die eine Beeinträchtigung haben. Sie gehen vielleicht raus auf die Straße, kaufen ein und besuchen hin und wieder eine Veranstaltung, aber sie präsentieren sich nicht so, wie es meiner Meinung nach notwendig wäre, um unserem »Team« eine richtige Lobby zu geben.
Zwischen »gesehen werden« und »sich zeigen« besteht für mich ein großer Unterschied. Sich zu zeigen, das heißt für mich, ansprechbar zu sein. Ansprechbar auf das, was ich will, was ich tue, was ich bewegen möchte – und nicht zuletzt auf das, was mich behindert. Ich mache aufmerksam, indem ich Orte besuche, und ich mache aufmerksam, indem ich zum Beispiel sachlich, aber deutlich sage: »Ich kann Ihrer Einladung leider nicht nachkommen, denn dieser Ort ist nicht barrierefrei.«
Ich beantworte alle Fragen, die Nicht-Behinderte haben, wenn sie jemanden im Rollstuhl sehen. Das geht bis zu dem Punkt, dass ich gefragt werde, wie es meinen Eltern mit mir geht. Falls auch Ihnen diese Frage im Kopf herumspukt: Gut geht es ihnen. Dabei konnten sich meine Eltern zunächst nicht vorstellen, dass mein Leben nach dem Unfall aus mehr bestehen würde als daraus, mit meiner Behinderung zurecht zu kommen oder »fertig« zu werden. Mit meiner Behinderung werde ich aber nicht fertig. Nie. Sie wird bleiben. Ein größeres, wichtigeres »Aber« ist jedoch: Meine Behinderung macht mich nicht fertig, und ich nicht meine Behinderung. Die fehlenden Beine und ich, wir sind seit mittlerweile zwanzig Jahren ein erfolgreiches Team, wenn es darum geht, Menschen mit Beeinträchtigungen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Und sie sind meine Marketinginstrumente, wenn ich mich für Projekte einsetze. »Darf man das? Fehlende Beine als ›Marketinginstrumente‹ bezeichnen?«, hat mich einmal eine Leserin gefragt, die in meinem ersten Buch über das Kapitel Ich bin eine Marke gestolpert war. Ich fragte sie zurück: »Wie ist es mit Sasha Lobo und seiner sichtbar schrägen Frisur – darf er diese Auffälligkeit als Marketinginstrument verwenden?« Die Dame stimmte mir zu.
Wieso ist die eine Auffälligkeit gesellschaftsfähig und eine andere – fast »natürliche« – nicht? Ein Mensch, der keine Beine
hat und sich dennoch bewegt, sollte eine Marke, ein Vorbild sein können. Für Menschen mit Behinderung und ohne. Denn genauso wie laut Joseph Beuys jeder Mensch ein Künstler ist, so hat auch sicher jeder Mensch ein Handicap. Beim einen ist das Handicap sichtbar, beim anderen nicht, aber ich bin überzeugt: Wir alle haben eins. Dass Menschen etwas schaffen können, dass sie fröhlich sind, leben und etwas zu geben haben, egal wie groß oder klein ihr Handicap auch sein mag, diese Botschaft trage ich gern und immer wieder in die Welt.
Damit sich wirklich etwas in der Welt verändert, sind Vorbilder das A und O. Menschen, die etwas »anderes« vorleben, von der Norm abweichen und genau diesen »Special Effect« betrachten oder, wenn nötig, sogar anfassen lassen. Sich allen Fragen stellen. Wenn sich daraufhin jemand da draußen denkt: »Was der olle Sitzmann geschafft hat, das kann ich auch schaffen!«, dann rufe ich »YES!« und klatsche vor Vergnügen in die Hände, denn dann habe ich meine Aufgabe einmal mehr erfüllt. Hätte ich ein Transparent in den Händen, dann würde darauf stehen: Ich bin ein gesunder Teil in einer manchmal kranken Gesellschaft, und ich gebe meinen Teil dazu, damit es in dieser Gesellschaft in manchen Bereichen besser vorangeht.
Einer der Höhepunkte meiner Projekte war ein 540 Kilometer langes Radrennen quer durch Norwegen, bei dem ich ganz bewusst angetreten bin, um Geld zu sammeln, und zwar für das Projekt Aufwind e. V. . Dieses Projekt gibt es seit 2007. Es ist eine soziale Einrichtung, in der pädagogische Fachleute Kinder, Familien und Alleinerziehende in schwierigen Situationen unterstützen. Momentan betreut Aufwind in der Mannheimer Neckarstadt fünf Tage die Woche mehr als 25 Kinder und deren Familien aus den verschiedensten Nationen. Das Projekt wird
nicht staatlich gefördert. Auch deshalb hat Aufwind einen größeren Handlungsspielraum, um
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