Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Schüler meinte, dass in dieser Lage nicht mehr viel machbar sei. Anschließend sollte der Junge sich in den Rollstuhl setzen und ausprobieren, welche Möglichkeiten er denn nun damit habe. Der Junge fuhr ein wenig im Rollstuhl herum, drehte sich mal nach rechts und mal nach links. »Da kann ich mich ja wenigstens bewegen, von A nach B kommen. Und ich bin aufrecht. Kann anderen direkt ins Gesicht schauen«, sagte der Junge. Das war eine sehr eindrucksvolle Erfahrung für ihn. Diese Begegnung öffnete ihm das Bewusstsein dafür, dass im Rollstuhl zu sitzen grundsätzlich gar nicht das Schlimmste ist. Denn es wäre ja noch viel schlimmer, nur reglos auf dem Rücken liegen zu können.
Ein weiterer beeindruckender Mensch mit Behinderung ist für mich seit Jahren der Rollstuhlfahrer und Weltenbummler Andreas Pröve. Das schließt sich nicht aus! Andreas hat schon mehrere Bücher über seine Reisen geschrieben, etwa über seine abenteuerliche Tour von Kalkutta bis zur Quelle des Ganges, quer durch Indien – mit dem Handbike! Andreas ist ein ganz spezieller Fall und für unsere Gesellschaft extrem wichtig,
weil er seine Behinderung nicht nur akzeptiert und sich mit ihr arrangiert hat, sondern darüber hinaus Dinge tut, die nicht einmal jemandem, der nicht körperlich eingeschränkt ist, in den Sinn kämen. Wer würde schon auf die Idee kommen, mit dem Fahrrad quer durch Indien zu fahren, ohne zu wissen, was ihn dort erwartet – und das Ganze dann noch mit einer Querschnittslähmung! Verrückt ist das – und mutig. Solche Verrücktheiten aber braucht unsere Gesellschaft, um sich vom klischeehaften Bild des Behinderten zu lösen.
Aus diesem Grund möchte auch ich natürlich immer weiter machen mit meinem Engagement für andere. Das Schönste daran ist: Wenn du dich einbringst, bekommst du alles irgendwann zurück! Engagement gibt dir das wunderbare Gefühl, dass du anderen Menschen geholfen hast und gebraucht wirst. Und dieses Gefühl ist unbezahlbar, insbesondere wenn deine Lebensumstände vermuten lassen würden, dass eher du derjenige bist, der Hilfe benötigt. Wenn du bei einem Radrennen, das du bestreitest, einen Batzen Geld für Kinder sammelst und die Zwerge dich später angrinsen, weil sie ein neues Spielzeug oder endlich mal wieder etwas Ordentliches zum Mittagessen bekommen haben, dann ist das mehr als genug Dank und motiviert schubartig zu neuen Aktionen. So hat mich auch die Norwegen-Radtour gleich zum nächsten Projekt angespornt: Mit meinem Freund Max habe ich 2010 am Marathon in New York teilgenommen. Ebenfalls für einen guten Zweck: für ein Projekt in Coburg, den Hippo-Mobil e.V ., der therapeutisches Reiten für schwerstbehinderte Kinder anbietet. Und im Moment gären bereits diverse andere Ideen, die ich in nächster Zeit umsetzen möchte: Ich bin ein Mensch mit Behinderung, ich bin sportlich und ich bin sozial engagiert. In dieser Kombination habe ich vor, noch viel zu bewegen.
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KAPITEL 13
Alle Jahre wieder
Weihnachten ist eine besondere Zeit für mich. Nicht unbedingt im christlichen Sinn, sondern weil man all die Menschen wiedersieht, die einem wichtig sind. Das Jahr neigt sich dem Ende und alle Verwandten und Freunde wollen sich noch einmal sehen. Als hätten sie das nicht auch vorher mal machen können.
Aber so schön diese Adventsverabredungen sind, haben sie auch ihre Schattenseiten: Die ganze Welt kommt in den »Lass uns doch vor Weihnachten noch mal treffen«-Stress. Als gäbe es kein nächstes Jahr! Die Gemütlichkeit kann da schon mal auf der Strecke bleiben – gerade für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Die Straßen, Cafés und Plätze sind verstopft, sodass man kaum vorwärts kommt, und Behindertenparkplätze sind rarer als Steinpilze in der Sammelzeit. Außerdem sind sie schwer zu finden; man muss die Augen offen halten und suchen und suchen, um irgendwann – hoffentlich – den einen Platz zu finden, der in der Nähe des gewünschten Ziels liegt.
Ich bin mit meinem Freund Max verabredet. Sein Büro liegt in der Nähe des Wasserturms in Mannheim. Da bietet es sich an, zusammen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Weihnachtsmärkte gehören für mich einfach zum Weihnachtsfeeling dazu, und bei gefühlten 2000 Weihnachtsmärkten, die es in unserer Region gibt, scheint das Angebot eine riesige Auswahl darzustellen. Aber, um bei den Pilzen zu bleiben, für einen Rollifahrer schrumpft diese Anzahl gleich zu einem Mini-Pfifferling zusammen, denn die meisten
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