Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
individuell und flexibel auf die jeweilige Notlage eingehen zu können. Damit landet die Hilfe immer genau da, wo sie am dringendsten gebraucht wird, und versackt nicht in teuren bürokratischen Kanälen.
Ich habe gemerkt, dass mein Einsatz trotz oder gerade wegen meiner Behinderung sehr gut funktioniert. Damals, kann ich mich erinnern, gab es einige, die staunten: »Das ist ja der Hammer, guck dir mal diesen Typen an! Der hat keine Füße und radelt sich hier für dieses Kinderprojekt die Seele aus dem Leib.« Manche fanden mich verrückt, viele trauten es mir nicht zu, andere waren begeistert – und alle gaben ihren finanziellen Teil dazu. Jeder soviel, wie er aufbringen wollte oder konnte. Manche unterstützten das Projekt auch mit Sachspenden. Eine Firma lieh mir ein Auto, eine Mannheimer Brauerei sponserte alle Getränke. Ein anderer Unternehmer sponserte Trikots, ein weiterer bedruckte sie. Es gab sehr viel Unterstützung, einige Fernsehteams kamen und filmten die ganze Aktion, und ich bin mir sicher, dass sich das nicht zuletzt so potenzierte, weil ich keine Beine hatte. Ich war selbst die Attraktion in der Sensation – und ich hatte Feuer in den Augen. Die Sponsoren bekamen durch mein Handicap natürlich auch eine gute Werbewirkung. Ganz klar, ich hätte das Rennen auch mit Beinen gewinnen können und sicher hätte ich auch in diesem Fall Sponsoren gefunden, aber weil ich keine Beine hatte, bewegte meine Agilität die Menschen besonders. Ich verstehe nicht, warum die Industrie Menschen mit Behinderung, die neben sportlichen auch überragende gesellschaftliche Leistungen erbringen können, nicht im vollen Maße als mögliche Werbepartner sieht. Und hier meine ich nicht die Hersteller von Medizinprodukten und Hilfsmitteln, sondern alle anderen Firmen, die zunächst einmal nichts
mit Handicap-Leuten zu tun haben. Ein Mensch mit Handicap hat in meinen Augen eine viel handfestere Botschaft als ein Sportler, der vielleicht einfach nur gut aussieht und läuft. Mit einer Kampagne, getragen durch einen Gehandicapten, kann man eine große Welle auslösen, die das Produkt und die Sache auf besondere Weise trägt und vermittelt. Sollte sich jetzt jemand angesprochen fühlen: Bitte einfach melden!
Weil meine Sache mit Aufwind so gut lief, versuche ich heute noch, andere Menschen zu motivieren, ihr Handicap zu zeigen und sich für eine Sache, die ihnen am Herzen liegt, einzusetzen.
Dass ich mich engagiere, war und ist für mich eine Bereicherung. Dieses soziale Denken und Engagement hat dazu geführt, dass ich selbst reifen konnte. Immer mehr konnte ich Themen erfassen, die mich selbst motivieren und mein Herz zum Schlagen bringen. Ich begann, meine Fühler danach auszustrecken, wo ich Menschen helfen könnte, die in ganz anderen Lebenslagen stecken als ich selbst.
Dass dieses Engagement einmal an höchster Stelle anerkannt werden würde, hätte ich mir nie erträumt. Umso überraschter war ich, als ich Anfang Dezember 2011 einen Brief mit dem Siegel des Bundespräsidenten im Briefkasten vorfand. Ich war erst einmal verdutzt, fragte mich, was der wohl von mir wollen könnte. Der Bundespräsident ist ja so was wie der oberste Chef unseres Landes. Einen Brief von ihm zu bekommen, das war natürlich eine spektakuläre Angelegenheit.
Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich Post von unserem »Weißen Haus« bekam. Dem Amtsvorgänger hatte ich mal mein erstes Buch geschickt, und dafür hat er sich mit einem Brief bedankt. Keine Ahnung, ob er es jemals gelesen hat. Ich hatte es ihm geschickt, weil es mir wichtig ist, deutlich zu machen: Mich gibt es. Mich und die anderen Bein-, Gehör- und Stimmlosen.
Diesmal war es aber anders. Der Bundespräsident schrieb mir, ohne dass ich ihn vorher bewusst auf mich aufmerksam gemacht hatte. Ich öffnete den Brief und hielt eine Einladung zum Neujahrsempfang des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue in Berlin in meinen Händen! Aufgrund meiner Taten zum Wohl der Allgemeinheit hätte man mich hierfür ausgewählt. Hört, hört!
Im Fernsehen hatte ich einmal eine Reportage über Bürger gesehen, die zu diesem Empfang eingeladen waren. Die meisten von ihnen engagierten sich bereits seit einigen Jahrzehnten für die Allgemeinheit und freuten sich nun über diese unerwartete Form des Danks. Daher wurde mir schnell klar, dass mich hier eine ganz besondere Ehre traf, insbesondere da ich ja noch nicht so alt, also auch noch nicht so lange im »Geschäft« bin. Es lagen Broschüren
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