Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Weihnachtsmärkte sind
alles andere als barrierefrei. Dass Max sich ausgerechnet am Nikolaustag treffen will, verschärft die Angelegenheit, denn auf den Märkten tummeln sich Chöre und Menschenmassen – Nikoläuse und die verschiedenen Kinderaufführungen sind ein besonderer Magnet. Die Besucherdichte pulsiert und es hängt eine Glühweinwolke über allen Ständen. Am Nikolaustag ist es ähnlich eng auf den Märkten wie am letzten Öffnungstag – verdammt eng, wenn man dieses Wort an Weihnachten benutzen darf. Auch mancher Fußgänger versucht zu flüchten, und wenn die ersten Leute über mich und meinen Rollstuhl gepurzelt sind, ist die größte Anfangsstrapaze überstanden und ich kann mich auch mal auf den Weihnachtsmarkt konzentrieren.
Aber erst einmal auf den Weihnachtsmarkt gelangen ... Der Behindertenparkplatz in der Nähe von Max’ Büro ist, wie erwartet, besetzt. Ich schätze, dass es in dieser Ecke sowieso nur ein paar wenige Behindertenparkplätze gibt, und gehetzt blicke ich mich um. Eigentlich müsste auf den Schildern, mit denen Behindertenparkplätze gekennzeichnet sind, vermerkt sein, wo sich der nächstgelegene befindet, so ähnlich, wie man es von Apotheken oder Parkhäusern kennt: »Der nächste Behindertenparkplatz ist in der ...-Straße. Bitte versuchen Sie es dort.«
Manche Städte haben Listen mit ihren Behindertenparkplätzen im Internet. Das ist ein guter Ansatz, aber während ich Auto fahre, kann ich darauf ja nicht zugreifen. Außerdem gibt es solche Listen nur von einigen Großstädten. Mannheim zum Beispiel ist schon mal nicht dabei.
So bin ich also gezwungen, mich durch den Adventsverkehr zu quälen, ohne zu wissen, wo der nächste Behindertenparkplatz
ist und ob ich dort Glück haben werde. Das ist, als wollte ich an einer Lotterie teilnehmen, ohne zu wissen, wo ich die Lose kaufen kann. Und die Gewinnchancen sind wahrscheinlich auch vergleichbar ...
Behindertenparkplätze sind für Menschen mit Handicap und im Rollstuhl eine ganz wichtige Hilfe. Normale Parkplätze sind für mich keine Alternative, denn diese sind für Rollifahrer zu schmal. Es ist unmöglich, die Tür zu öffnen und gleichzeitig den Rollstuhl neben mir zu platzieren. Deswegen hat ein kluger Kopf sich einst Behindertenparkplätze ausgedacht. Ich gebe jedoch zu, dass ich – wie andere Autofahrer auch – meinen Wagen gern in der Nähe habe. Ich möchte nicht kilometerweit von meinem Treffpunkt entfernt parken müssen, und ich rutsche mit dem Rollstuhl ungern über Bordsteinkanten und Straßenecken.
Mit meinem blauen Behinderten-Parkausweis kann ich in der gesamten EU und in vielen anderen Ländern auf den speziell markierten Stellplätzen parken, die andere Autofahrer nicht oder nur eingeschränkt benutzen können. Parkuhren und Parkscheinautomaten brauchen mich gar nicht zu interessieren – zwei große Vorteile, würden nicht regelmäßig Leute ohne Behinderung ihre Karren auf solchen Plätzen abstellen. Die könnte ich zwar abschleppen lassen, aber auf das Theater habe ich jetzt, in der Weihnachtszeit, keine Lust. Das verdirbt nur die Laune – und kostet nebenbei enorm Zeit!
Während ich meine Parkplatz-Suchrunden drehe, blicke ich von allen Seiten in den Markt hinein. Ich sehe, wie immer mehr Menschen durch die kleinen Gassen strömen. Der Hunger grummelt in meinem Bauch und ich überlege, welche
Wurst ich gleich am Stand verspeisen werde. Mal schauen, ob ich Schlange stehen muss. Auch darauf habe ich keinen Bock, weil ich dann in der Regel nur Hinterteile sehe. Das ist oft der typische Rollstuhlfahrerblick. Runter schauen, damit man kein Kabel übersieht, geradeaus schauen und mit dem Blick auf Hinterteilen landen. Nackenstarre, wenn man mit jemandem sprechen oder etwas kaufen will. Außerdem ist es in den Gängen eng. Ich leide zwar nicht unter Klaustrophobie, aber ein gutes Gefühl ist das trotzdem nicht. Eine etwas entspanntere Atmosphäre wäre mir lieber.
Annika befürchtete zu Beginn unserer Liebe, dass Menschenansammlungen mich nervös machen könnten. »Es kommt darauf an«, habe ich ihr damals erklärt, »mit welcher Grundeinstellung ich von zu Hause losgezogen bin.« Meine Grundeinstellung heute ist nicht gerade locker, weil ich spät dran bin und keinen Parkplatz für mich finde. Weil ich Max nicht erreiche, bleibe ich eine Weile mit dem Auto stehen und warte ab. Tatsächlich, der Parkplatz für Behinderte vor seinem Büro wird frei. Ein nicht Behinderter fährt weg – aber
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