Bluescreen
darüber war. Der Tanzende Mann hatte für sie etwas Bedeutendes verkörpert, etwas, das sie nicht wirklich in Worte fassen konnte. Es hatte wohl mit den fransigen Rändern des offiziellen Amerika zu tun, dessen Saum man immer noch gerne berührt. Mit den filigranen Fäden, von denen die gewöhnlichen Träume durchwirkt sind. Sie hielt sich nicht für sonderlich patriotisch, in keinerlei Hinsicht. Sie salutierte nicht vor der Flagge. Aber es machte sie traurig.
Sie sah sich in der Stadt um, vielleicht würde sie ja jemanden finden, der wüsste, was passiert war. In der Nähe des Bauernmarkts traf sie einen alten Freund, der dort auf dem Bordstein saß, wahrscheinlich auf einem LSD -Trip. Er erinnerte sich nicht an ihren Namen, nannte sie Betsy. Doch als sie den Tanzenden Mann erwähnte, erwachte sein Gesicht zum Leben. »Ich hab’ ihn nie wiedergesehen, Betsy. Man hört allerdings die tollsten Geschichten . . . Dass er der Sohn eines Milliardärs war, zum Beispiel, und dass irgendwann eine Limousine vorgefahren ist und ihn mitgenommen hat. Vielleicht war er auch einfach ein Irrer? Glaub’ doch, was du willst. Aber ich sage, dass er einfach nur seinen Tanz vollendet hatte.«
Die Realität des Reality- TV
Es gibt diesen uralten Traum von einem Fernsehen, das sehr viel mehr sein könnte, als es ist. Von einem Fernsehen, das, anstatt sich einfach nur einzunisten in unseren Wohnzimmern, eine Verbindung darstellt, über die sich aus ebendiesen Wohnzimmern zugreifen lässt auf ein Leben, das wir alle miteinander teilen.
1992 wäre diese Fernsehutopie beinahe in Reichweite geraten – an jenem Tag, an dem die US -amerikanischen Kabelfernsehanbieter verkündeten, dass sie ihr Angebot in Zukunft auf fünfhundert Kanäle ausweiten würden. Unsere utopischen Vorstellungen basierten damals sowohl auf richtigen als auch auf falschen Annahmen. Wir gingen davon aus, dass die großen Sender oder gar Senderfamilien es sich gar nicht würden leisten können, Programme für so viele Kanäle zu entwickeln und zu produzieren. Damit lagen wir richtig. Außerdem dachten wir, dass Gebührenzahler und Abonnenten sich fünfhundert Kanäle voll mit den ewig gleichen Belanglosigkeiten, mit Wiederholungen von Sendungen, die schon woanders gelaufen waren, mit ausgetauschten und mehrfachverwendeten Programmen, Infomercials, Home-Shopping-Sendungen und zum x-ten Mal gezeigten Filmen nicht würden bieten lassen. Damit lagen wir falsch.
Wir waren sicher, dass eine solche Fülle an Kanälen den ein oder anderen Sender des reinsten und vollkommensten Glücks entstehen lassen und uns all die tröstlichen Dinge direkt nach Hause liefern würde, nach denen wiruns immer gesehnt hatten: den 24-Stunden-Welpen-Kanal, den Himmelskanal, den Meereskanal, den Babykanal – Kanäle, die nichts anderes als ausgelassen herumtollende Welpen zeigen würden, friedliche Himmel, stürmische Meere und großköpfige Babys. Derlei ist nie geschehen. Und doch ist das Kabelfernsehen im Namen der kleinen Freuden zerstückelt worden: um auf dem Food-Network, dem InStyle-Network und auf Home and Garden Television ( HGTV ) für sehr viel utilitaristischere Interessen werben zu können. (Die Erhabenheit der Natur hat sich im Kabelfernsehen nur im Rahmen gottesfürchtiger Diashows auf den christlichen Kanälen durchgesetzt, wo Bilder aus dem Yosemite Nationalpark mit Stellen aus dem Ersten Korintherbrief untertitelt werden.)
Die wirkmächtige Geschichte der Technologie erweist sich als die Geschichte ihrer lediglich fantasierten Anwendungen sowie als Geschichte all jener Formen, die sie dann tatsächlich annimmt. Letztlich beruhten all unsere Kabelträume auf einer wunderschönen Idee: der Vorstellung von einer Sendung, in der es um nichts als um unser eigenes Leben geht, einer Sendung, an der wir selbst mitwirken können. Bei einer solch aberwitzigen Anzahl von Kanälen würde den Firmen doch eigentlich gar nichts anderes übrig bleiben, als einen Teil des Programms an uns, an die Zuschauer abzugeben – oder etwa nicht? Und wir vielen Millionen würden in das entstandene inhaltliche Vakuum hineinströmen. So gewiss wie jene Welpen, der Ozean und der Himmel würden auf den Kanälen 401 bis 499 auch wir unserer Natur ihren Platz im Fernsehen sichern: heiratend, streitend, an die Wand starrend, zu Abend essend, unsere Füße ansehend, Wettbewerbe abhaltend, singend, niesend. Hunderttausende von uns hatten bereits damals Kameras. Wir würden sie einstöpseln und das Band
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