Blüte der Tage: Roman (German Edition)
aufschnitt. Nicht wahr, Roz?«
»Ja. Ich musste um zwei Uhr nachts vier Kinder in den Wagen packen und zur Ambulanz fahren, damit Masons Fuß genäht werden konnte.«
»Wir hatten unser Lager vor Sonnenuntergang am westlichen Ende des Grundstücks aufgeschlagen. Bis um zehn Uhr abends war uns allen ziemlich schlecht von den Unmengen Hotdogs und Marshmallows. Außerdem hatten wir von all den Geistergeschichten, die wir uns erzählten, ein ziemlich mulmiges Gefühl. Leuchtkäfer flogen umher.« Er schloss einen Moment die Augen, als sähe er alles wieder vor sich. »Es war stickig und feucht. Wir hatten uns alle bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Die jüngeren Kinder schliefen ein, doch Harper und ich blieben noch längere Zeit wach. Irgendwann muss ich eingedöst sein, denn als Nächstes erinnere ich mich daran, wie Harper an meiner Schulter rüttelte. ›Da ist sie‹, flüsterte er. Und tatsächlich sah ich sie, wie sie durch den Garten ging.«
»Oh, mein Gott«, stieß Hayley hervor und rückte näher an David heran, während Stella alles mittippte. »Und dann?«
»Nun ja, Harper wollte, dass wir ihr folgen, und ich versuchte, ihm das auszureden, ohne als Feigling dazustehen. Inzwischen waren auch die beiden anderen aufgewacht. Harper sagte, er würde gehen, und wenn wir solche Angsthasen seien, könnten wir ja dableiben.«
»Ich wette, Sie sind mitgegangen«, bemerkte Stella.
»Welcher Junge will schon vor den anderen als Feigling dastehen? Zu guter Letzt gingen wir alle. Mason war damals sicher nicht älter als sechs Jahre alt, aber er trottete mit seinen kurzen Beinchen hinter uns her. Der Mond schien hell, wir konnten sie also gut sehen, doch wir hielten Abstand, damit sie uns nicht bemerkte.
In dieser Nacht wehte nicht der kleinste Windhauch. Kein Blatt regte sich, alles war still. Und auch sie bewegte
sich auf ihrem Spaziergang durch den Garten völlig lautlos. In dieser Nacht sah sie irgendwie anders aus als sonst, doch was es war, wurde mir erst viel später bewusst.«
»Und was war es?« Gespannt packte Hayley ihn am Arm.
»Ihr Haar war offen. Vorher war es immer hochgesteckt gewesen. Auf eine sehr liebenswerte, altmodische Art, mit Ringellöckchen, die sich von einem Dutt auf dem Kopf herunterkringelten. Aber in dieser Nacht wallte ihr das Haar wild über die Schultern und den Rücken. Und sie trug etwas Weißes, Fließendes. Ja, zum ersten Mal strahlte sie etwas wirklich Gespenstisches aus. Und ich hatte Angst vor ihr, viel mehr als beim ersten Mal oder auch danach. Sie verließ den Pfad, schritt über die Blumen, ohne sie zu berühren. Ich hörte mein eigenes Keuchen und muss wohl langsamer geworden sein, da Harper ein gutes Stück vor mir war. Sie ging in Richtung der alten Stallungen und des Kutschhauses.«
»Das Kutschhaus?«, fragte Hayley erstickt. »Wo Harper wohnt?«
»Ja. Nur wohnte er damals natürlich nicht dort«, merkte David mit einem Lachen an. »Nein, wahrscheinlich wollte sie zu den Ställen gehen, musste dafür jedoch am Kutschhaus vorbei. Jedenfalls blieb sie dort plötzlich stehen und drehte sich zu uns um. Ich erstarrte zu Stein, und mir gefror das Blut in den Adern.«
»Puh, das kann ich mir vorstellen!«, ächzte Hayley.
»Sie sah irgendwie wahnsinnig aus, und das war schlimmer als alles andere. Ehe ich entscheiden konnte, ob ich Harper hinterher rennen oder mich wie ein jämmerlicher Feigling schnellstens aus dem Staub machen
sollte, begann Mason zu kreischen. Ich dachte, sie habe Harper erwischt und hätte beinahe selbst losgekreischt. Doch da kam Harper schon zurückgerannt. Wie sich herausstellte, hatte Mason nur geschrien, weil er sich den Fuß an einem Stein aufgeschlagen hatte. Als ich mich wieder zu den Ställen umsah, war sie verschwunden.«
Erschaudernd hielt er inne, gab dann ein mattes Lachen von sich. »Bei der Erinnerung gruselt es mich noch heute.«
»Mich auch«, keuchte Hayley.
»Er musste mit sechs Stichen genäht werden.« Roz drehte den Block in Stellas Richtung. »So ungefähr habe ich sie im Gedächtnis.«
»Ja, das ist sie.« Nachdenklich betrachtete Stella die Zeichnung der dünnen Frau mit den traurigen Augen. »Stimmt das auch mit Ihrer Erinnerung an sie überein, David?«
»Bis auf die eine Nacht, ja.«
»Hayley?«
»Absolut treffend wiedergegeben.«
»Ja, finde ich auch. So, sehen wir uns mal das Kleid an. Sehr schlicht, leicht tailliert, hochgeschlossen, am Vorderteil geknöpft. Okay, die Ärmel sind etwas betont; leichte
Weitere Kostenlose Bücher