Blüte der Tage: Roman (German Edition)
Puffärmel bis zum Ellbogen, am Unterarm eng anliegend. Der Rock fällt weich über die Hüften und wird nach unten hin weiter. Ihr Haar ist lockig, auf dem Kopf zu einer Art Knoten hochgesteckt. Die Zeit, aus der diese Mode stammt, müsste ich übers Internet herauskriegen. Aber es ist sicher nach achtzehnhundertsechzig, oder? Nach Scarlett O’Haras Reifröcken. Und vor neunzehnhundertzwanzig, würde ich sagen, weil ab da die Röcke kürzer wurden.«
»Ich denke, es ist um die Jahrhundertwende«, meldete sich Hayley zu Wort und zuckte verlegen die Achseln, als alle Blicke sich auf sie richteten. »Ich weiß eine Menge unnützer Dinge. Das sieht aus wie der so genannte Sanduhr-Stil der viktorianischen Ära. Obwohl sie so dünn ist, kann man das sehen. Diese Art von Klamotten wurde in den Neunzigerjahren des neunzehntes Jahrhunderts getragen.«
»Sehr gut. Dann sehen wir mal nach.« Stella gab einige Befehle in den Laptop ein.
»Ich muss mal kurz aufs Klo. Findet ja nichts Wichtiges heraus, ehe ich zurück bin.« Hayley stürmte hinaus, so schnell es ihr Zustand zuließ.
Mit zusammengekniffenen Augen prüfte Stella die angebotenen Websites und wählte schließlich eine über die Frauenmode in der letzten Dekade des neunzehnten Jahrhunderts aus.«
»Spätviktorianisch«, verkündete sie, während sie die Seite las und mit dem Cursor weiterblätterte. »Auf den Abbildungen sieht das viel eleganter aus, aber das Grundmuster stimmt überein.«
Sie ging zum Ende der Dekade und weiter zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. »Nein, um diese Zeit sind die Ärmel an den Schultern viel bauschiger. Man nannte das Keulenärmel. Und die Mieder sind anliegender.«
Sie ging mit dem Cursor wieder zurück. »Wie es aussieht, hat Hayley mit ihrer Zeitangabe Recht.«
»Habe ich richtig gehört?« Außer Atem stürmte Hayley herein. »Ein Punkt für mich.«
»Moment. Wenn sie ein Dienstbote gewesen ist«, erinnerte Roz, »war sie wohl kaum so modisch gekleidet.«
»Verdammt!« Hayley machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Dann nehmen wir einfach die Zeitspanne zwischen achtzehnhundertneunzig und neunzehnhundertzehn«, schlug Stella vor. »Wenn wir ihr Alter auf etwa fünfundzwanzig ansetzen, müsste sie zwischen achtzehnhundertfünfundsechzig und achtzehnhundertfünfundachtzig geboren sein.«
Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine zu große Zeitspanne.«
»Ihr Haar«, mischte sich David ein. »Sie mag ein Dienstbote gewesen sein und Kleidung aus zweiter Hand getragen haben, aber was hätte sie daran hindern sollen, ihr Haar nach der neuesten Mode zu frisieren?«
»Ausgezeichnet.« Stella klickte sich durch weitere Websites. »Hier, die so genannte Gibson-Frisur nach Charles Dana Gibson. Eine Art gemäßigte Pompadour-Frisur, die dann ab achtzehnhundertfünfundneunzig allgemein verbreitet war. Wenn wir einfach mal davon ausgehen, dass unsere Heldin ihr Haar modisch frisierte, könnten wir den Zeitrahmen zwischen achtzehnhundertneunzig und fünfundneunzig stecken, vielleicht auch achtundneunzig, wenn sie der Mode etwas hinterher war. Wenn wir des Weiteren davon ausgehen, dass sie in dieser Dekade starb, dürfte sie bei ihrem Tod, sagen wir mal, zwanzig bis sechsundzwanzig Jahre alt gewesen sein.«
»Werfen wir mal einen Blick in die Familienbibel«, schlug Roz vor. »Dann sehen wir, ob in dieser Dekade eine Harper-Frau passenden Alters, ob blutsverwandt oder angeheiratet, gestorben ist.«
Roz zog das schwere Buch zu sich heran. Es war in schwarzes Leder gebunden und kunstvoll verziert. Offenbar
hielt Roz das Buch in Ehren, denn das Leder war gepflegt und frisch geölt.
Roz blätterte durch die alte Bibel bis zu den Seiten, die für Eintragungen über Hochzeiten, Geburten und Todesfälle der Familie bestimmt waren. »Das geht bis ins Jahr siebzehnhundertdreiundneunzig zurück, der Heirat zwischen John Andrew Harper und Fiona MacRoy. Es folgen die Geburten ihrer acht Kinder.«
»Acht?« Unwillkürlich fasste sich Hayley an den Bauch. »Heiliger Strohsack!«
»Sie sagen es. Sechs davon haben das Erwachsenenalter erreicht«, fuhr Roz fort. »Hochzeiten, Geburten, Geburten, Geburten.« Sorgfältig blätterte sie die dünnen Seiten um. »Hier haben wir mehrere Harper-Mädchen, die zwischen achtzehnhundertfünfundsechzig und achtzehnhundertsiebzig geboren wurden. Da, eine Alice Harper Doyle, im Oktober achtzehnhundertdreiundneunzig im Alter von zweiundzwanzig Jahren im Kindbett gestorben.«
»Schrecklich«, seufzte Hayley.
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