Blüte der Tage: Roman (German Edition)
»Sie war jünger als ich.«
»Und hatte bereits zwei Kinder«, stellte Roz fest. »Das war damals eine harte Zeit für Frauen.«
»Kann sie hier, in diesem Haus gelebt haben?«, fragte Stella. »Und hier gestorben sein?«
»Gut möglich. Sie hat achtzehnhundertneunzig einen gewissen Daniel Francis Doyle aus Natchez geheiratet. Wir können die Sterberegister überprüfen. Ich habe noch drei weitere Frauen, die in dieser Periode gestorben sind, aber das Alter passt nicht. Sehen wir mal hier nach. Alice war Reginald Harpers jüngste Schwester. Er hatte noch zwei weitere Schwestern, keine Brüder. Vermutlich hat also er das Haus und den Grund geerbt. Zwischen Reginald
und jeder der Schwestern liegt eine ziemlich lange Zeitspanne. Wahrscheinlich Fehlgeburten.«
Auf Hayleys kurzen Aufschrei hin, blickte Roz auf und sagte streng: »Nehmen Sie sich das nicht so zu Herzen.«
»Ich bin schon okay«, sagte Hayley und holte tief Luft. »Reginald war also der einzige Sohn dieses Zweigs?«
»Ja. Es gab jede Menge Cousins, die ihn im Falle seines frühen Todes beerbt hätten, doch er hatte selbst einen Sohn – erst mehrere Töchter, dann achtzehnhundertzweiundneunzig den Jungen.«
»Was ist mit seiner Frau?«, warf Stella ein. »Vielleicht ist sie diejenige, die wir suchen.«
»Nein. Sie lebte lang, bis neunzehnhundertfünfundzwanzig.«
»Dann überprüfen wir als Erstes Alice«, beschloss Stella.
»Und versuchen, etwas über die Dienstboten dieser Zeit herauszufinden. Es würde mich nicht wundern, wenn Reginald mit einer Kinderfrau oder einem Dienstmädchen herumpoussiert hat, während seine Frau mal wieder schwanger war. Schließlich war er ein Mann.«
»Hey!«, protestierte David.
»Entschuldige, Schätzchen. Sagen wir also, er war ein Harper-Mann und lebte in einer Zeit, in der es für Männer eines bestimmten Standes völlig normal war, Geliebte zu haben oder sich ein Dienstmädchen ins Bett zu holen.«
»Klingt schon besser. Aber nicht viel.«
»Wissen wir sicher, dass er mit seiner Familie während dieser Zeit hier gewohnt hat?«
»Ein Harper wohnte immer im Harper-Haus«, belehrte Roz Stella. »Und laut unserer Familiengeschichte
war Reginald derjenige, der vom Gaslicht zur Elektrizität überwechselte. Er muss hier gelebt haben bis zu seinem Tod im Jahr ...« Sie warf einen Blick in die Chronik. »Neunzehnhundertneunzehn. Danach ging das Haus an seinen Sohn, Reginald junior, über, der neunzehnhundertsechzehn Elizabeth Harper McKinnon heiratete, seine Cousine vierten Grades.«
»Gut. Wir müssen also herausfinden, ob Alice oder irgendwelche Hausangestellten im passenden Alter in dieser Zeit gestorben sind.« Stella nahm sich ebenfalls einen Notizblock zur Hand und notierte die Zahlen. »Roz, wissen Sie, wann die ... die Besuche begannen?«
»Nein, komischerweise nicht. Eigentlich sollte ich viel mehr über die Harper-Braut wissen. Unsere Familiengeschichte wird von Generation zu Generation mündlich und schriftlich weitergegeben. Da gibt es nun einen Geist, der seit über einem Jahrhundert hier herumspukt, und trotzdem weiß ich kaum etwas darüber. Mein Daddy hat sie einfach nur die Harper-Braut genannt.«
»Was genau wissen Sie über sie?«, fragte Stella, den Bleistift gezückt, um alles mitzuschreiben.
»Ich weiß, wie sie aussieht, kenne ihr Lied. Ich habe sie als Kind gesehen, wenn sie in mein Zimmer kam und mir ihr Gutenachtlied vorsang. Es war ... beruhigend. Sie strahlte etwas Zärtliches, Beschützendes aus. Manchmal sagte ich etwas zu ihr, doch sie gab niemals eine Antwort. Sie lächelte nur. Mitunter weinte sie auch. Danke, David«, sagte sie, als David ihr Kaffee nachschenkte. »In meiner Teenagerzeit habe ich sie nicht mehr gesehen und kaum noch an sie gedacht, da ich natürlich hunderttausend andere Dinge im Kopf hatte. Aber ich weiß genau, wann ich sie danach wieder gesehen habe.«
»Machen Sie es doch nicht so spannend!«, drängte Hayley.
»Es war im Sommer, Ende Juni. John und ich waren noch nicht sehr lange verheiratet. Es war sehr heiß, eine dieser schwülen, windstillen Nächte, wenn sich die Luft wie eine feuchte Decke anfühlt. Obwohl es im Haus kühler war, konnte ich nicht schlafen und ging in die stickige Nacht hinaus. Ich war unruhig und nervös. Dachte, ich sei vielleicht schwanger. Ich, vielmehr wir wünschten uns das so sehr, dass ich kaum an etwas anderes denken konnte. Ich ging also hinaus, setzte mich auf die alte Verandaschaukel, starrte den Mond an und
Weitere Kostenlose Bücher