Blüte der Tage: Roman (German Edition)
davon.«
»Lassen Sie mich bitte die genaue Anzahl wissen, damit ich die Bestandsliste berichtigen kann. Roz, da ist noch etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Nur zu.« Prüfend musterte Roz ihre Geranien.
»Es geht um den Geist.«
Roz hob eine lachsfarbene Geranie hoch und betrachtete sie von allen Seiten. »Und, was ist damit?«
»Ich komme mir wie ein Idiot vor, weil ich dieses Thema überhaupt anschneide, aber ... Haben Sie sich je durch die Geisterfrau bedroht gefühlt?«
»Bedroht? Nein. Das wäre übertrieben ausgedrückt.« Bedächtig stellte Roz die Geranie in eine Plastikkiste und suchte die Nächste aus. »Wieso fragen Sie?«
»Weil ich sie gesehen habe.«
»Das überrascht mich nicht. Die Harper-Braut zeigt sich vor allem Müttern und kleinen Jungen. Manchmal auch kleinen Mädchen. Ich habe sie als Kind auch gelegentlich gesehen und dann später, als die Jungen kamen, ziemlich regelmäßig.«
»Beschreiben Sie mir, wie sie aussieht.«
»Etwa Ihre Größe.« Während Roz redete, wählte sie weitere Geranien für den Gartenverein aus. »Dünn. Sehr dünn. Schätzungsweise Mitte bis Ende zwanzig, obwohl das schwer zu sagen ist. Sie sieht nicht sehr gesund aus.
Selbst für einen Geist nicht«, fügte sie mit schmalem Lächeln hinzu. »Sie kommt mir vor wie eine Frau, die im Grunde sehr schön, aber durch irgendeine Krankheit ausgezehrt und gezeichnet ist. Sie ist blond, und ihre Augenfarbe ungefähr Graugrün. Ihr Blick ist sehr traurig. Sie trägt ein graues Kleid – zumindest wirkt es so. Es schlackert an ihr herum.«
Stella atmete aus. »Das ist die Frau, die ich gesehen habe. Es ist völlig irre, aber ich habe sie tatsächlich gesehen.«
»Sie können sich geschmeichelt fühlen. In der Regel zeigt sie sich kaum jemandem außerhalb der Familie – so lautet jedenfalls die Sage. Aber sie stellt keine Bedrohung dar, Stella.«
»Gestern Abend, als ich nach den Jungen schaute, habe ich das jedoch so empfunden. Zuerst habe ich sie singen hören.«
»Lavendel ist blau. Das Lied ist gewissermaßen ihr Markenzeichen.« Geschickt knipste Roz einen schwachen Seitentrieb ab. »Soweit mir bekannt ist, hat sie noch niemals gesprochen, aber sie singt den Kindern, die im Haus wohnen, nachts ihr Lied vor.«
»Ich bin sofort ins Kinderzimmer gestürmt. Und da stand sie, genau zwischen den beiden Betten. Sie sah mich an. Es währte nur eine Sekunde, aber sie sah mich an. Ihr Blick war nicht traurig, Roz. Ein kalter Windstoß traf mich, als hätte sie etwas Unsichtbares nach mir geworfen.«
Jetzt blickte Roz interessiert auf. »Auch mir kam es manchmal so vor, als sei sie wütend auf mich. Eine minimale Veränderung im Ausdruck. Ähnlich dem, was Sie beschrieben haben.«
»Es ist wirklich so gewesen.«
»Ich glaube Ihnen, aber trotzdem habe ich sie vorwiegend als wohlwollende Erscheinung empfunden. Diese mitunter aufflammende Wut habe ich als Launenhaftigkeit interpretiert. Ich nehme an, dass auch Geister launisch sein können.«
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst«, sagte Stella.
»Wieso nicht? Menschen sind launisch, oder? Warum sollte sich das ändern, wenn sie tot sind?«
»Okay«, sagte Stella nach einer Weile. »Lassen wir das einfach mal so stehen. Aber vielleicht hat sie etwas dagegen, dass ich im Haus wohne.«
»Im Verlauf der letzten hundert Jahre haben eine Menge Menschen hier gewohnt, zahlreiche Gäste des Hauses. Sie sollte daran gewöhnt sein. Wenn Sie lieber in den anderen Flügel umziehen ...«
»Nein. Das würde nichts ändern. Nach dem Schock über dieses Erlebnis habe ich gestern Nacht im Kinderzimmer geschlafen, wiewohl ihr Zorn eindeutig nicht meinen Söhnen, sondern einzig und allein mir galt. Wer ist sie überhaupt?«
»So genau weiß das niemand. Wir nennen sie die Harper-Braut, doch sie war wohl eher ein Dienstmädchen, oder eine Kinderfrau oder Gouvernante. Wahrscheinlich wurde sie von einem männlichen Familienmitglied verführt, geschwängert und dann fallen gelassen. Zumindest ist das meine Theorie. Das würde auch erklären, weshalb sie sich von Kindern derart angezogen fühlt. Jedenfalls muss sie im Haus oder in unmittelbarer Nähe des Hauses gestorben sein.«
»Es muss doch Unterlagen geben. Eine Familienbibel, Einträge über Geburten und Todesfälle, Fotografien, was auch immer.«
»O ja, tonnenweise.«
»Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mir das gern mal durchsehen. Ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe.«
»In Ordnung.«
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