BLUFF!
Geschichte, damit es nicht so weh tut. Die rechte Szene fälscht sich sogar aus dem Verbrecher Adolf Hitler einen martialischen Gutmenschen.
Das alles sind mehr oder weniger gefährliche oder harmlose Fälschungen und Verbiegungen der Geschichte. Sie vernebeln den Zugang zu unserer gesellschaftlichen Vergangenheit und irritieren dadurch unsere Identität. Das muss nicht in jedem Fall schlimm sein, die eine unbezweifelbar wahre Geschichte könnte niemand schreiben, und man kann außerdem nicht von morgens bis abends geschichtsschwanger durch die Gegend laufen. Bekannt ist das Bonmot von Konrad Adenauer: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.« Doch eines ist klar: Ein Patient, der überhaupt nicht mehr weiß, wer er ist und woher er kommt, ist schwer krank.
»Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln«, sagt Faust in Goethes Weltgedicht. Die Herren der totalitären Ideologien haben die Geschichte systematisch gefälscht. Der real existierende Sozialismus hatte seinen »historischen Materialismus« und der Nationalsozialismus seinen »Mythus des 20. Jahrhunderts«. Und so rücksichtslos wie diese Ideologien mit gegenwärtigen Menschen umgingen, so vernichtend war auch ihre Geschichtsschreibung, in der ein erfundener ewiger Kampf zwischen immer denselben Guten und immer denselben Bösen tobte. Dagegen bemühen sich seriöse Wissenschaftler, nicht bloß eine Geschichte von Ideen, sondern von konkreten Menschen zu schreiben, das Historische als Historisches zu respektieren und nach Möglichkeit nicht leichtfertig mit vorgefassten Meinungen das Eigentliche des historischen Ereignisses ideologisch niederzumachen. Das gelingt nie vollständig, denn jede Zeit hat ihren eigenen Blick auf die Geschichte. Doch schon die Bemühung darum, auch gestorbenen Menschen gerecht zu werden, ist ein Akt der Humanität.
Freilich ist die Geschichtswelt, selbst wenn sie korrekt beschrieben wird, auch eine Welt, in der die existenziellen Erfahrungen des Menschen unmittelbar nicht vorkommen. Zwar beschreiben die heiligen Bücher der Völker geschichtliche Taten Gottes oder der Götter. Doch das professionelle Instrumentarium des Historikers ist blind für das Phänomen Gott. Es ist bloß imstande, zu beschreiben, worin die Menschen den Sinn ihres Lebens sahen und wie sie sich zu Gott oder den Göttern verhalten haben. Der Historiker kann die Existenz Gottes nicht beweisen oder widerlegen.
Auch existenzielle Liebe ist in der Geschichte allenfalls ein irritierender Störfaktor. Man geht davon aus, dass die Liebe Caesars und später Marc Antons zur Ägypterin Kleopatra am Ende beide Männer zugrunde gerichtet hat. Heinrich VIII . von England, der gerade noch wegen einer heftigen Streitschrift gegen Martin Luther vom Papst den Ehrentitel »Defensor Fidei« erhalten hatte, nahm den Bruch mit Rom in Kauf, um die leidenschaftlich geliebte Anne Boleyn erst in sein Bett und später dann aufs Schafott zu zerren. Und der englische Zehnmonatskönig Edward VIII . verzichtete auf die Krone, um seiner nicht standesgemäßen, aber heißgeliebten Frau ins Exil zu folgen. Mag auch ein Historiker eine Passion für irgendeine historische Figur entwickeln, wirklich existenziell begegnen kann er ihr beim besten Willen nicht. Für den Historiker ist Liebe letztlich ein ziemlich unordentliches Gefühl, das alles durcheinanderbringt.
Und auch Gut und Böse erschließt sich dem Historiker nicht wirklich. Sein Job ist es im Gegenteil, all das genau darzulegen, was die Freiheit eines Menschen, gut und böse zu handeln, einschränkt, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, in denen die Menschen lebten, die persönliche Lebensgeschichte der historisch Handelnden, ihre Leidenschaften und Obsessionen. Die existenzielle freie Entscheidung eines Menschen zwischen Gut und Böse selbst liegt für den Historiker letztlich jenseits seiner Kompetenz. Das kann dann auch zu Missverständnissen führen. Als Joachim Fest seinen glänzenden Film »Hitler – Eine Karriere« in die Kinos brachte, in dem er auf der Grundlage historischer Forschung sehr feinfühlig analysierte, wie harmlos das alles anfangs wirkte und wie subtil die Menschen dann mehr und mehr in das totalitäre System hineingezogen wurden, da gab es Einzelne, die das für eine Verharmlosung Hitlers und des Nationalsozialismus hielten. Man verwechselte das wissenschaftliche Bemühen, zu verstehen, mit plumper
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