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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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mich aus Berlin angerufen, Sie verstehen«, sagte der Graf. »Offenbar ist man dort der Auffassung, dass ich als Eigentümer und Vermieter der Gebäude von Ulmengrund am leichtesten ein Auge auf das eine oder andere werfen kann.«
    Er hatte ein schönes Gesicht, fand Waltraut. In seiner Jugend musste er ein gut aussehender Mann gewesen sein. Etwas an ihm erinnerte sie an ein bekanntes Porträt des mittelalterlichen Dichters Dante Alighieri: das schmale Gesicht, die lange, gerade Nase mit der leichten Erhebung in der gewissen Höhe, die ihm den feinen, aristokratischen Ausdruck schenkte.
    Die Leiterin nickte artig. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und gefaltet und presste ihre Lippen aufeinander, bis
sie weiß wurden. Man hätte denken können, dass sie dem Grafen insgeheim zu Füßen lag.
    Er hob und senkte die Hände auf den Armlehnen seines Sessels und sagte: »Dem Führer einen Blumenstrauß überreichen, das klingt bedeutungslos, ist es aber beileibe nicht. Die finanziellen Förderer und Träger von Haus Ulmengrund sind geografisch weit entfernt und erhoffen sich bestimmt Vorteile von diesem Privileg. Ich habe den Herren in Köln und Essen geraten, die Sache mit einiger Vorsicht anzugehen. Wir sollten den erzieherischen Geist von Ulmengrund in Berlin nicht an die große Glocke hängen.«
    Er holte Luft.
    »Ich bin kein Erzieher, meine Damen. Aber meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, dass Kinder eine strenge Führung benötigen und dass Freiheit etwas ist, das einigen Wenigen auf der Pyramidenspitze nützt, sonst niemandem. Ich bin kein Freund derjenigen, die dem Volk Versprechungen machen. Ich sage meinen Leuten klipp und klar, dass mir das meiste gehört und ihnen sehr wenig, und damit bin ich immer gut gefahren.« Er sank in seinen Sessel zurück, aus dem er sich ein Stück vorgebeugt hatte. »Dieses Mädel, Frau Misera, wie fügt es sich denn so? Ist es eine gute Schülerin?«
    Die Leiterin musste sich sammeln. »Reni liest viel. Wie ich höre, hat sie den Wunsch, Medizin zu studieren.«
    Graf Haardt stülpte seine Unterlippe vor. Seine Augen wurden schmal, als er fragte: »Und ihr Benehmen?«
    »Sie ist temperamentvoll, Herr Graf. Sie hat Fantasie und schart die anderen Mädel um sich und unterhält sie gerne.« Die Leiterin nickte in Waltrauts Richtung. »Fräulein Knesebeck hat mir berichtet, dass Reni den anderen erfundene Geschichten
erzählt. Ihre Eltern seien Ärzte und arbeiteten in diesem Urwaldspital des Doktor Schweitzer.«
    »Dieser verrückte Negerarzt?« Der Graf verzog das Gesicht. »Woher hat sie diese Fantasie?«
    Frau Misera lächelte flüchtig. »Ich bin überzeugt, dass sie vollkommen geeignet ist, die bevorstehende Aufgabe zu bewältigen.«
    »Sicher«, entgegnete er nachdenklich. Dann sah er Waltraut an. »Wie ist denn Ihre Meinung, Fräulein …«
    Waltraut sagte ihren Namen und er wiederholte ihn murmelnd. Ohne es zuvor überlegt zu haben, fand sie den Mut, ehrlich zu sein, und antwortete: »Ich glaube, dass eine solche Aufgabe für ein Kind auch außerordentlich belastend sein wird. Nicht im Augenblick der Begegnung, sondern nachher.«
    Der Graf hob die dichten Brauen und legte die Stirn in Falten. Die Misera hüstelte.
    »Das ist ein sensibles Alter: fünfzehn«, erklärte Waltraut und wurde sich erst jetzt klar, dass sie die Leiterin womöglich kompromittierte. Sie merkte, wie sie rot wurde.
    Überraschenderweise nickte der Graf ihr zu. »Darüber sollten wir uns Gedanken machen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie darauf hinweisen.«
    »Aber die Größe des Erlebnisses …«, sagte die Misera, vielleicht etwas übereilt. »Ich meine, diese einmalige Erfahrung … so etwas muss doch das Selbstbewusstsein eines jeden Menschen ungeheuer stärken.«
    »Ich glaube«, sagte der Graf, »Fräulein Knesebeck möchte darauf hinweisen, dass eine Fünfzehnjährige kein fertiger Mensch ist, sondern labil. Und genau das ist es, was ich von Ihnen zu erfahren gehofft habe, meine Damen. Ob Sie sich einig sind, dass diese Reni Anstorm die Reife hat, dort eben
nicht zusammenzuklappen, vor den Augen der Welt sozusagen, Sie verstehen mich.«
    Waltraut traute sich, die Leiterin anzusehen. Sie hörte, wie die Misera atmete. »Fräulein Knesebeck ist meine fähigste Erzieherin. Wir sind beide davon überzeugt, dass Reni über eine stabile Persönlichkeit verfügt, auch wenn sie erst fünfzehn ist. Und ich glaube, Herr Graf, alles wird bestimmt halb so schlimm. Das Mädel begegnet schließlich

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