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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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auch nur eines unserer Kinder Ihre Unterstellungen bestätigen wird.«
    »Weil Sie Ihren perfiden Einfluss auf die Kinder ausüben!«, fauchte die Leiterin. »Selbstredend werden Sie für einen solchen Fall vorgesorgt haben, das habe ich bereits gesagt. Ich bin nicht so naiv, Fräulein Knesebeck, auf Ihre unverschämten Kniffe hereinzufallen.« Sie streckte die Hand mit dem Umschlag weiter vor und ging auf Waltraut zu.
    Waltraut schüttelte den Kopf, drehte sich um und fasste an die Türklinke. Dann sagte sie zur Seite: »Bitte warten Sie, bis Reni nach Hause kommt. Sie wissen so gut wie ich und jeder im Hause, dass Reni sich nicht in irgendein System zwingen lassen würde.«
    Die Misera zog das Kuvert wütend zurück und warf es auf den Tisch. »In diesem Falle sehe ich mich gezwungen, umgehend mit Düsseldorf und Essen zu telefonieren, um Ihr unglaubliches Betragen unserem Vorstand zu melden.«
    »Das dürfen Sie tun«, sagte Waltraut atemlos und öffnete die Tür. »Ich bin kein Kind, Frau Misera. Ich würde das Wort ›Betragen‹ vermeiden, es heißt ›Verhalten‹.« Sie ging hinaus und ließ die Tür zufallen.

Die Kunst des Segelfliegens
    J ockel hatte nicht die blasseste Vorstellung, wie es weitergehen sollte. Wenn er sich wenigstens an Helmuth hätte wenden können, aber der war vielleicht schon in Hamburg und ahnte nichts. Unentwegt rannten diese Bilder durch den Kopf: Hannes liegt im Gras, und da ist Blut, die Sichel …
    Der Nieselregen war in eine schwebende Feuchtigkeit übergegangen, die einen feinen Vorhang vor die Welt zu ziehen schien. Denn das Leben war vorüber. Im Grunde hatte er nichts mehr darin zu suchen, er gehörte nicht länger dazu. Das Schicksal hatte ihn ausgespuckt wie ein Stück Knorpel.
    Er drehte sich noch einmal um und blickte Reni nach, wie sie in einem gräflichen Einspänner hinter einer Biegung verschwand. Dann war er mit Gott allein. Er betete im Gehen. Aber er merkte, dass seine Worte zu schwach waren. »Zum Beten gehört Kraft«, hatte einer seiner Volksschullehrer einmal gesagt. »Mit Flüstern und Käferknistern kann Gott nichts anfangen.«
    Aber Jockel hatte keine Kraft mehr. Er lief, ohne es zu merken, folgte dem Feldweg, den er eingeschlagen hatte und der dorthin führte, wo das Leben eine entscheidende Wendung hätte nehmen können. Hätte. Wenn er, wie Helmuth, aus dem Gefängnis ausgebrochen wäre, wenn er mit ihm abgehauen wäre.
    Die Luft war so nass, dass sie in den Lungen wehtat. Jockel fühlte nicht, dass er vollkommen durchnässt war. Er lief weiter. Wenn er am Ziel war, würde er einfach alles geschehen lassen, wie es gerade kam. Sein Schicksal hatte sich entschieden.
Der Weg führte in einem langen Bogen um Maiersbach herum. Im Dunst konnte er ein paar niedrige Dächer ausmachen, die ihre rote Farbe verloren hatten. Dann kamen ein Wäldchen, eine steile Mulde, eine Rodung, von der aus man bei gutem Wetter bereits die Wasserkuppe sehen konnte. Schließlich bog er nach Süden ab und folgte der Chaussee bis vor Abtsroda. Von dort aus begann der Aufstieg und führte zu dem Segelhang.
    Die Baracken auf der Spitze duckten sich im Dunst. Als er dort oben ankam, verließ ihn der Mut, und er blieb draußen stehen.
    Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und ein Junge rief ihm zu: »Nu mach schon! Du wirst ja pitschenass!« Jockel tat kleine Schritte. Der Junge war in seinem Alter, dunkelblond, in kurzen Lederhosen, barfuß, braun gebrannt mit Sommersprossen, hellen Augen. »Los, rein mit dir! Geh nach hinten, ich gebe dir trockene Sachen. Wenn der Professor dich so sieht, gibt’s einen Anschiss.«
    Jockel trat ein. Etwa zwei Dutzend Jungen und junge Männer sahen ihn nur flüchtig an.
    »Mannomann«, sagte einer, der ihn anschaute und merkte, wie triefnass er war. Ein paar andere lachten.
    Der barfüßige Junge führte ihn in ein Nebenzimmer, nahm dort trockene Hosen und ein Hemd aus einem Schrank und warf die Sachen über einen Stuhl. Dann ging er zu den anderen und schloss die Zwischentür.
    Jockel zog sich um. Und wieder diese Mörder-Bilder. Vielleicht träumte er ja bloß, ihm war ein wenig übel. Als er trocken, aber mit wirr vom Kopf abstehendem Haar in den größeren Raum zurückkehrte, fragte einer: »Bist du aus Gersfeld?«

    Jockel schüttelte den Kopf.
    »Zwei aus Gersfeld fehlen noch.« Der Junge hatte eine Armbanduhr. »Noch vier Minuten.«
    Ein anderer, der am Fenster stand, rief: »Der Professor kommt!«
    Sofort entstand eine merkwürdige Unruhe, in

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