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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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Sinkgeschwindigkeit des Rhönfalken .«
    Jockel hob die Hand und rief: »Wie auf einer Rolltreppe!«
    Viele drehten sich nach ihm um. Hier und da wurde getuschelt. Einige lachten versteckt.
    »Wer hat schon mal eine Rolltreppe gesehen? Außer Jockel, der offenkundig weiß, was das ist.«
    Niemand meldete sich.
    »Jockel, willst du es selber sagen? Ein prima Beispiel.«
    Jockel stand auf. Ihm wurde heiß. »Das ist eine Treppe, die sich bewegt. In einer Illustrierten war ein Bild davon. Die Stufen fahren entweder hoch oder runter. In Köln gibt es so eine, in einem Kaufhaus. Wenn man sich draufstellt, fährt man zum Beispiel nach oben. Aber wenn man nun währenddessen über die Treppe nach unten läuft, dann wird man trotzdem nach oben gefahren, eben nur ein bisschen langsamer. Wenn man schneller läuft, schafft man es natürlich. Man kann natürlich auch nach oben laufen, dann ist man schneller oben als die Treppe selbst.«
    Der Professor nickte. »Großartig, Jockel. Vielen Dank. Also: Das Luftpaket ist die Rolltreppe, und der Mann, der nach oben will und sich unten draufstellt, ist das Flugzeug. Josef, hast du das verstanden?«
    »Angeber«, sagte jemand laut.
    »Also was soll denn das? Nun mal bitte keinen Neid!«, mahnte der Professor.
    »War der denn überhaupt in Köln?«, fragte jemand anders.
    »Dazu muss Jockel nicht selbst in Köln gewesen sein. Hinschauen und Nachdenken genügen«, sagte der Professor und schoss ein paar strenge Blicke in den Raum.

    Niemand wagte mehr zu stänkern. Jockel nahm sich vor, nichts mehr zu sagen. Zum Glück wusste keiner hier im Raum, wer er war und was er auf dem Kerbholz hatte.
    »Das alles bedeutet also«, begann der Professor von Neuem, »dass wir uns mit unserem Flugzeug im Luftmeer auch ohne Propeller nach vorne bewegen können. Nämlich indem wir in einem Wärmekamin senkrecht aufsteigen und die gewonnene Höhe geradeaus abfliegen, bis wir einen neuen Warmluftschlauch finden, der uns wieder senkrecht nach oben bringt, und immer so weiter.«
    »Senkrecht, waagerecht, senkrecht, waagerecht, und wir sind angekommen«, sagte ein Junge aus der ersten Reihe.
    Der Professor gab ihm recht, nahm ein Stück Kreide und malte ein paar längliche Sägezähne. »Nicht ganz waagerecht, wie man sieht, sonst würde es nicht gehen.«
    Jockel winkte, ihm wurde wieder heiß dabei. Es wäre so toll, hier richtig mitzumachen.
    »Ja?«
    »Dann sind also Wärmeaufwind und Wolkenaufwind ein und dasselbe«, sagte er.
    »Der Hangaufwind ist ein orografisches Geschehen, verursacht durch ein Hindernis«, erklärte der Professor. »Wärmeund Wolkenaufwinde sind thermische Vorgänge. Wir müssen uns also nicht mehr drei Dinge merken, sondern nur noch zwei. Und das haben wir unserem neuen Kameraden Jockel zu verdanken!«
    Wieder kam Unruhe auf.
    Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein, so geht das nicht, Herrschaften. Wir müssen schon jeder für sich lernen, das anzuerkennen, was ein anderer leistet. Segelfliegen funktioniert nur in der Gemeinschaft. Wer denkt, dass er besser
ist als andere, aber auch wer denkt, dass andere nicht besser sein dürfen als er selbst, hat in der Gemeinschaft nichts zu suchen.« Er hatte es mit beeindruckender Strenge gesagt und dabei ein paar ausgewählte Gesichter fixiert.
    Dann wartete er, dass seine Worte wirkten. Es wurde mäuschenstill.
    »Und noch etwas, wenn wir schon einmal dabei sind. Es gibt einige, die gerne hinter dem Berg halten, sei es mit irgendwelchen Fähigkeiten, Kenntnissen oder Vorteilen, über die sie verfügen, die sie aber der Gemeinschaft vorenthalten möchten. Andere möchten irgendwelche Sünden, Schwächen oder Mängel nicht verraten wissen. Das alles schadet der Gemeinschaft, und glaubt mir, früher oder später kommt alles an die Oberfläche, das ist wie mit der Leiche im See. Ich sage das, damit jedem klar ist, was wir mit Gemeinschaft meinen.« Er legte wieder eine Pause ein.
    Jockel ging es schlecht. Er fühlte sich, als wäre er durchsichtig geworden, als genügte ein einziger Blick, um zu erkennen, was mit ihm los war. Er war die Leiche im See. Er gehörte nicht hierher. Gestern noch, ja, und heute Morgen, sicher. Aber jetzt nicht mehr.
    »Die Kunst des Segelfliegens«, fuhr der Professor fort, »mag so manchem von außen betrachtet arglos oder schwach erscheinen, wie Spielerei vielleicht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie aus Not geboren wurde. Die Siegermächte haben uns das Motorfliegen verboten, wir haben darauf reagiert.

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