Blumen für den Führer
Dezembermorgen des Jahres 1918, ein Dreivierteljahr nach Ende des Weltkrieges, war ein fremder Mann in den Hof des Hauses in Grünberg getreten, wo sie zusammen mit ihrer Mut – ter und deren Schwestern und dem kranken Vater der drei Töchter lebte. Die Großmutter war ein Jahr zuvor gestorben.
Der Mann trug einen schmutzigen Mantel. Um den Kopf hatte er einen Lumpen gewickelt, nur das Gesicht schaute hervor. Waltraut war im Hof allein gewesen, die anderen befanden sich im Haus. Der Fremde blieb vor ihr stehen, und sie blickte tief erschreckt in seine Augen, die in dunklen Höhlen lagen. Er schwieg, seine Lippen waren vom Frost eingerissen, die Haut war rot gefleckt und um den Mund wuchs reifbedecktes graues Barthaar. Gewiss kam er aus einem Märchen, aus einer Höhle, aus einem Verlies, wie es sie in Märchen gab. Oder er war ein Zauberer. Angst war damals in ihr hochgestiegen. Der Mann sah sie nur an. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken, seine nackten Hände zitterten, die Stiefel waren schmutzig und zerrissen.
Was dann genau passiert war, wusste sie nicht mehr. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war das Gebrüll des Mannes, als an einem Abend plötzlich die Glühbirne an der Küchendecke platzte und es stockdunkel wurde. Als eine ihrer Tanten eine Kerze entzündete, saß er wimmernd in der Ecke, schützte seinen Kopf mit beiden Armen und hatte sich eng eingerollt wie ein erschreckter Igel. Der fremde Mann, hatten alle ihr gesagt, sei niemand anders als ihr Vater …
»Hast du eigentlich Monika gesehen?«, fragte Waltraut. »Hilde sagte mir vorhin, sie sei nicht beim Frühstück gewesen.«
Friederike drehte sich auf die Seite. »Sie ist spät ins Bett gegangen und hat kein Wort gesagt. Beim Aufstehen habe ich sie nicht gesehen.« Sie rutschte tiefer in das Kissen, kuschelte sich ein.
»Ich schaue gleich mal nach«, erwiderte Waltraut, stand auf und wandte sich zur Tür.
»Sie mögen Reni sehr, nicht wahr?«, fragte das Mädel überraschend.
»Weil sie so wunderschön ist. Jeder mag Reni, ob er will oder nicht.«
»Jeder ist auf seine eigene Weise liebenswert, das weißt du doch. Wie wir selber sind und anderen erscheinen, das wissen wir nicht. Es ist eines der großen Geheimnisse des Lebens. Darüber haben sich viele kluge Leute den Kopf zerbrochen und sind kaum weitergekommen als wir beide.« Sie lächelte. »Werd du erst mal gesund. Reni hat es momentan nicht leicht. Was ihr bevorsteht, kann auch zur Belastung werden.«
»Ich hätte schreckliche Angst, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche, als einmal dem Führer gegenüberzustehen. Ich würde sterben vor Aufregung. Fräulein Knesebeck, die anderen sagen, Sie lieben Reni.«
»Ich mag euch alle sehr.«
»So meine ich das nicht.«
»Friederike, das wäre ein sehr gefährliches Gerücht, ich meine, wenn sich so etwas herumsprechen würde. Es ist natürlich barer Unfug. Ich hoffe, du glaubst solche Dummheiten nicht.« Waltraut musste sich zur Ruhe zwingen.
»Entschuldigung, Fräulein Knesebeck«, sagte das Mädchen leise.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich freue mich sehr darüber, dass wir uns so reif und erwachsen unterhalten können. Darauf kann ich als Erzieherin ja auch ein bisschen stolz sein, oder?«
Friederike nickte müde.
»Jetzt ruhe dich aus. Ich sage Frau Misera, dass du heute Nachmittag nicht an der Hof- und Gartenarbeit teilnehmen kannst. Es hat sowieso zu regnen angefangen.« Waltraut winkte ihr zu und verließ den Schlafsaal. Sie war nur halb beruhigt. Monika fiel ihr wieder ein und gleich darauf der Vater, der
nicht sprechen konnte; er hatte damals nicht lange bei ihnen im Grünberger Haus gelebt. Bis zum neunzehnten November des darauf folgenden Jahres; es war der Tag vor Waltrauts fünftem Geburtstag gewesen.
Kurz nachdem der Vater aufgetaucht war, hatte die Mutter einen Brief erhalten. Ein gewisser Oberstleutnant Justus Eyssen schrieb ihr, dass der Unteroffizier Lothar Knesebeck am vierzehnten Februar 1918 vor Marittimo bei Sizilien infolge einer schrecklichen Verkettung von Zufällen und Missverständnissen fast dreißig Stunden lang in einer Pumpenkammer des Minenlegers U64 eingeschlossen worden wäre. Sie, seine Gattin, möchte Rücksicht auf ihn nehmen und beachten, dass seit diesem Unglück jedwede Kontaktaufnahme mit ihm so gut wie unmöglich und ihr Mann für den U-Boot-Marinedienst bedauerlicherweise untauglich geworden sei. Einige Wochen nach dem Unfall sei er in Wilhelmshaven nach einem kurzen Urlaub
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