Blumen für den Führer
du mich verstanden?«
Reni sagte Ja. Das alles schien ihr selbstverständlich, und sie war sicher, dass der Herr Graf, sobald er erfuhr, was geschehen war, mit seinem Einfluss die geeigneten Schritte unternehmen würde, sodass niemandem ein Unrecht widerfuhr. Sie musste daran denken, wie Jockel sich vorhin verhalten hatte. Sie war froh, dass er nicht zu ihr in den Wagen gestiegen war, das rechnete sie ihm hoch an. Er tat ihr sogar leid.
»Ist er denn wirklich ein Mörder?«, fragte sie.
Frau Misera machte eine unsichere Handbewegung. »Offensichtlich gibt es einen Zeugen. Der Junge ist so alt wie du. Aber er ist der Sohn eines Landarbeiters, da mangelt es an ordentlicher Erziehung. Es gibt Elemente, die muss eine Gemeinschaft nach und nach aussondern, so schwer es fallen mag.« Sie lehnte sich zurück. »Vielleicht erzählst du mir einmal ganz genau, wie sich die beiden Brüder euch gegenüber verhalten haben. Haben sie irgendetwas gerufen, haben sie Späße gemacht, Fragen gestellt, Geschichten erzählt, euch von der Arbeit ablenken wollen, wenn Fräulein Kaul nicht hingesehen hat?«
»Nein«, sagte Reni. »Jockel hat von der Fliegerei erzählt und sein Bruder hat gar nichts gesagt.«
»Wem hat dieser Jockel das erzählt, allen oder nur dir?«
»Nur mir.« Reni wurde plötzlich klar, dass sie Jockel nicht mehr wiedersehen würde.
»Aha, er ist also zu dir hingekommen, hat dich angesprochen und nach deinem Namen gefragt.«
»Er wusste, wie ich heiße. Ich wusste auch, wie er heißt.«
»Ihr habt zuvor schon miteinander gesprochen? Ein anderes Mal?«
»Nein. Alle wissen, wie er heißt«, antwortete Reni. Die eindringliche Art, wie die Leiterin fragte, missfiel ihr.
»Ich muss also annehmen, dass er sozusagen bekannt ist unter den Mädchen und ich darüber nicht informiert worden bin. Wie ist es denn mit den Erzieherinnen? Kennen sie ihn auch und wissen sie, dass dieser Junge unter euch bekannt ist?«
»Das weiß ich nicht, Frau Misera.«
»Ich will es anders sagen: Hast du den Eindruck, dass die Erzieherinnen weggesehen haben, wenn er in der Nähe war, oder dass sie weggehört haben, wenn ihr über ihn geredet habt?«
»Eigentlich nicht.«
»Was heißt das?«
»Ich weiß nicht, was die Erzieherinnen tun oder denken.«
»Reni, als Leiterin dieses Hauses ist es meine Pflicht, mir über diese Dinge Gedanken zu machen. Ich kann meinen Angestellten nicht freie Hand lassen, nur weil sie als Erzieherinnen natürlich ihren Beruf erlernt haben. Die Kunst der Erziehung und Menschenführung ist zu komplex, als dass man sie in der Praxis unbeobachtet lassen dürfte. Verstehst du das?«
Reni nickte.
»Dann verstehst du auch, dass meine Fragen nicht ungebührlich in dich dringen wollen. Ich bemühe mich lediglich um eine gute Ordnung. Ulmengrund ist euer Zuhause. Ich trage die Verantwortung und muss wissen, was an den Stellen vor sich geht, wo ich nicht immer hinsehen kann. Und dabei musst du mir helfen. Ihr Mädel kennt unsere Erzieherinnen besser als ich, die ich mit der Verwaltung beschäftigt bin und kaum Zeit habe, durchs Haus zu laufen und zu schauen, ob alles so ist, wie es sein soll.«
Reni sagte leise Ja. Natürlich verstand sie diese Zusammenhänge.
»Ihr unterscheidet doch sehr genau zwischen den Damen, das weiß ich. Fräulein Knesebeck ist euch lieber und vertrauter als Fräulein Kaul, die ja ziemlich streng ist. Oder nicht?«
»Ja.«
Die Leiterin lächelte. »Ich glaube, Fräulein Knesebeck hat so eine Art, eine gewisse Nähe zu euch herzustellen … Ich hatte mit ihr deswegen ein sehr ernstes Gespräch. Im Grunde mag ich sie auch. Aber offenbar hat sie sich in den Kopf gesetzt, einen neuen Erziehungsstil einzuführen. Ich weiß, dass sie während ihrer Ausbildung Lehrer hatte, die der Auffassung sind, dass Kinder den richtigen Weg hin zu Erwachsensein und Reife ganz von alleine finden. Das mag bei manchen Kindern sogar zutreffen, bei dir zum Beispiel. Aber du weißt, dass du nicht bist wie die anderen. Die meisten brauchen eine starke Führung. Fräulein Knesebeck passt also zu dir, das verstehe ich, aber sie passt nicht zu Ulmengrund als Ganzes. Haus Ulmengrund in dieser neuen Zeit, verstehst du?«
Reni bewegte sich nicht, sie holte kaum Luft.
»Eine solche fachkundliche Beurteilung gehört mit zu meinen Pflichten, Reni, und als der Vorstand und ich Fräulein Knesebeck seinerzeit einstellten, sind wir übereingekommen, dass wir sie beobachten werden. Vielleicht denkst du jetzt, das sei
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