Blumen für den Führer
Gräben um den Keller, damit Jockel nicht entfliehen konnte.
Die Kälte riss Jockel aus dem Schlaf. Es dämmerte und Spatzen lärmten. Er stieg aus dem Erdkeller und machte sich auf den Weg nach Schwarzerden zu Siggis Mutter, bevor die ersten Leute von den Höfen in die Felder gingen. Er fror entsetzlich und fühlte schmerzhaft alle Glieder. Aber er hatte neuen Mut, sich durchzuschlagen. Er musste es nach Hamburg schaffen!
Der Himmel war wolkenlos und färbte sich im Osten rot. Es roch nach Gras und Erde. Jockel quälte das Gewissen. Die Mutter tat ihm leid. Es musste ihm gelingen, ihr die schlimmsten Sorgen abzunehmen und ihr zu sagen, dass er zu Helmuth fuhr und in der Fremde Glück und Frieden finden würde.
Er nutzte jede Hecke auf dem Weg, jeden Einschnitt, wo ein Bach verlief, und jede Senke in den Feldern. Er kannte
die Umgebung sehr genau. Aber es war kein Vorteil, weil allen anderen, denen er begegnen konnte, die Landschaft ebenso vertraut war. Sie war von einem auf den anderen Tag zu Feindesland geworden, nur weil ein dummer Knecht nicht hatte an sich halten können.
Siggi aus Schwarzerden war Helmuths Freund. Folglich war Frau Goldschnigg ihm, Jockel, nicht so vertraut wie seinem Bruder, der als Junge oft bei Siggi übernachtet hatte, in den Ferien manchmal tagelang, bis der Vater es verboten hatte. Warum, blieb ungewiss. Das Verbot wurde durchbrochen und Helmuth hörte Predigten, erhielt Drohungen und schließlich Schläge. »Schwarzerdener Gesocks!«, wetterte der Vater, ohne zu erklären, was er meinte. »Passt nicht zu uns!«
Einmal hatte Jockel seinen Bruder nach der Arbeit auf dem Feld in Schwarzerden abgeholt. Da war er zwölf. Siggis Mutter hatte ihn hereingebeten und sich sehr gefreut, ihn kennenzulernen. Sie hatte ihm ein großes Glas herrliche, selbst gemachte Limonade hingestellt. In dem Zimmer stand ein angenehmer, für ihn von da an »weiblicher« Duft, an den er sich lange erinnert und ihn mit Frau Goldschnigg verbun – den hatte, die ihm sehr schön erschienen war. Ein paarmal hatte er später geglaubt, den Duft wiederzuerkennen, aber es waren vage, schwimmende Einbildungen. Er freute sich darauf, gleich an die Wohnungstür zu klopfen. Trotz seiner Angst. Aber er würde draußen bleiben, weil er selbst zu schmutzig war und stank. Während er das Gras und die Erde roch, dachte er an diesen Duft und bildete sich ein, ihn schon zu wittern.
Das Dorf lag in einer Mulde. In einigen Fenstern brannte Licht. Jockel hetzte sich, weil es nicht noch heller werden durfte. Er würde das Haus durch den Garten betreten. Es
gab eine rückwärtige Treppe, die in einen kurzen Kellerraum führte, von wo aus man in die auf Straßenniveau liegende Stube hinaufsteigen konnte, in der die Mutter mit Siggi gelebt hatte, bis er nach Hamburg gegangen war; der Vater war im Krieg geblieben.
Jockel lief außen um das Dorf, tauchte hinter eine Reihe Haselbüsche und sah den Holzzaun, über den er steigen musste. Er sprang hinüber und schlich gebückt zum Haus. Alle Fenster waren dunkel. Er horchte angespannt. Wenn er gleich klopfte, würde er Frau Goldschnigg sicher wecken, aber er hatte keine Wahl. Die Frage quälte ihn, wie viel sie seit gestern über ihn erfahren hatte und was sie dachte und ob seine Annahme, dass sie ihm vertraute, richtig war. Er hatte sie lange nicht gesehen, und es gab nur die Vereinbarung, dass er Helmuths Post bei ihr entgegennehmen konnte.
Er spähte in den dunklen Niedergang. Und plötzlich sah er es: Die Kellertür stand offen! Er trat auf die oberste Stufe. Am Boden lagen Splitter, Scherben. Wieder lauschte er, ging ein paar Stufen tiefer. Jetzt hatte er die Tür erreicht. Auf dem glatten Holz sah er die Spuren schwerer Schläge. Eine kleine Scheibe in der Türblattmitte war herausgestoßen worden; das zerbrochene Glas knirschte unter seinen Sohlen, als er weiterging. Er musste weitergehen, es zog ihn vorwärts. Er spürte die Gefahr, betrat den engen Kellerraum. An seinem Ende befand sich eine steile, enge Treppe, die nach oben in das Zimmer führte. Es war stockdunkel. Sein Schuh stieß gegen etwas Sperriges am Boden. Er bückte sich und tastete danach, es war ein umgeworfener Eimer, und daneben lagen andere Dinge, so viele, dass er für den Moment nicht weitergehen konnte.
Er hockte sich und horchte ängstlich. Erforschte weiter die
Umgebung. Der Schreck in ihm breitete sich aus, die Hitze wechselte mit Eiseskälte. Er tastete sich vor; hier musste jene Treppe sein! Er fand die
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