Blumen für den Führer
Vorteil war, konnte ebenso gut zum Nachteil werden, wenn man von jemandem gesehen wurde, ohne es zu merken.
Das schräge, selbst gebaute Dach aus dicht übereinandergelegten flachen Fichtenzweigen hielt zwar den Regen ab.
Aber die Luft war kühl, schon deshalb musste er so schnell wie möglich in den Schutz der alten Scheune, in der es einen ungenutzten Erdkeller gab, wo er sich als Kind manches Mal zusammen mit Helmuth vor dem Vater versteckt hatte.
Er dachte viel an Helmuth.
Seine einzige Chance war es, sich bis zu ihm nach Ham – burg durchzuschlagen. Er musste aus der näheren Umgebung verschwinden, dann über Fulda hinaus und auf eine Landstraße, die nach Norden führte. Dort fuhren Lastkraftwagen. Doch zuerst brauchte er trockene Kleidung, etwas zu essen, und der Mutter musste er die Nachricht bringen, dass er kein Mörder war. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Siggi Goldschniggs Mutter in Schwarzerden, ihr konnte er vertrauen, sie würde dafür sorgen, dass die Mutter es erfuhr. Aber er musste sich verstecken. Sogar das blaue Hemd der Segelflieger, das er trug, würde ihn verraten, wenn der Professor oder einer seiner Schüler hörten, warum er fortgelaufen war.
Wie es zu dem Unglück gekommen war, konnte er nicht genau sagen. Hannes war wütend auf ihn losgegangen. Er, Jockel, hatte seine Sense fallen lassen, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Er hatte Wut im Bauch gehabt. Darüber, wie der Knecht über Helmuth und ihn selbst hergezogen war. Der Kerl hatte angegriffen und nach ihm getreten. Jockel hatte einen Stiefel aus der Luft erwischt, mehr war da nicht gewesen. Hannes war nur hingestürzt. Jockel hatte erst verstanden, was geschehen war, als Hannes auf der Sense lag und zitterte. Vor Schreck und Angst war er davongerannt. Erst später war ihm eingefallen, dass Fritz, der ältere Knecht, nicht weit entfernt gewesen war und ihren Streit bestimmt gesehen hatte – und seine Flucht natürlich auch.
Als er dann Reni begegnet war, noch dazu im gräflichen Einspänner, war alles noch verworrener geworden. Gut, dass er nicht zu ihr eingestiegen war. Reni war offenbar nicht bloß irgendein Mädel aus Ulmengrund; es hatte eine besondere Bewandtnis mit ihr, die er nicht kannte und die ihn noch weiter von ihr entfernte, als es ohnehin der Fall war. Sie passten sicher nicht zusammen. Es tat ihm weh, das nur zu denken. Aber er hatte keine andere Wahl.
Im Westen zeigten sich rötlich helle Streifen am Himmel. Der Regen hatte nachgelassen. Es musste spät geworden sein. Weit und breit war niemand zu sehen; auch war es so still geworden, dass das Blut in Jockels Ohren rauschte.
Er spähte in alle Richtungen.
Mit einem Satz war er auf den Beinen und wetzte quer über das nasse Feld auf die Ruine zu. Im Laufen machte er den Rücken krumm, warf sich nach vorne und stolperte ein paarmal fast. Seine Schuhe wurden immer schwerer vom Lehm. Mit letzter Luft rannte er in den Schatten der Scheune, sprang in den Erdkeller und saß keuchend still. Hörte auf zu atmen, horchte. Hechelte erneut und lauschte wieder. Allmählich kam er zur Ruhe. Wenn ihn jemand bemerkt hatte, würde er sich sowieso nicht mehr wehren können. Er war mit seiner Kraft am Ende, aber auch mit seinem Mut und mit dem winzigen Rest Zuversicht, dass es überhaupt noch einen Ausweg für ihn gab.
Es war kalt, feucht und finster. In einer Ecke lagen ein paar vergessene Säcke, die von Ratten angefressen worden waren. Apfel- und Kartoffelreste schimmelten daneben, es roch faulig. Aber er hatte eine gute Deckung, und falls es in der Nacht noch einmal regnen sollte, wäre er geschützt.
Als er wieder Luft hatte, sammelte er trockene Bretter und
baute einen Boden. Er fand Stroh, raffte es zusammen und rollte sich hinein, dämmerte halbwach. Es war zu kalt, um richtig einzuschlafen.
Der Himmel wurde dunkel.
Und mit der Dunkelheit kamen die Gespenster. Der Vater kam als Schlange. Er wand sich um die Scheune, leuchtete mit tellergroßen Augen und steckte seine gespaltene Zunge in jede Ritze der Ruine. Verfluchter Taugenichts!, schrie er und flüsterte: Mich hast du eigentlich gemeint! Und warf mit Knochen, Häuten, Steinen. Jockel duckte sich in seinem Loch und spürte, wie ihm Erde in den Mund flog, die er essen musste. Er erstickte fast daran.
Hannes kam als grauer Engel. Die Sense steckte ihm im Rücken und schaute aus der Brust hervor. Der Hannesengel biss in Balken, dass es krachte, verschlang das Scheunendach und grub metertiefe
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